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Nie mehr Nacht (German Edition)

Nie mehr Nacht (German Edition)

Titel: Nie mehr Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Bonné
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Servicepersonal und den Passagieren an Bord gutging. Lilith habe den besten Job von allen, hatte der nette ältere Herr am Telefon zu Annik gesagt. Im Büro stehe zwar ihr Schreibtisch, aber die meiste Zeit sei sie unten am Hafen bei den Docks oder draußen auf einer Fähre.
    »Nicht vergessen«, sagte Annik, »Supermanche heißt die Linie, und das Fährbüro ist direkt am Hafen. Ich werde morgen übrigens mit Didier sprechen und ihn fragen, was er – abzüglich Rabatt – für Ihren Mercedes haben will.« Sie verabschiedete sich und sagte ernst: »Ach ja. Und auch mich – bitte nicht vergessen.«
    Ich versprach es ihr, und dann legten wir auf. Nach kurzem Zögern hob ich wieder ab und legte den Hörer daneben.
    Den Rest des hellen Tages verbrachte ich allein mit mir und an der frischen Luft. Im Gerätehaus am Frühstückspavillon fand ich eine handliche Heckenschere und nahm zur Sicherheit auch einen Schraubenschlüssel, einen »Knochen«, wie mein Vater gesagt hätte, und eine Kombizange mit. Es war ein windiger, immerhin trockener Tag. An der Pavillonmauer entlang blinzelte ich durch die Böen in Richtung englische Küste. Die See lag unter grauem Dunst, kein Schiff war zu sehen, nicht ein einziger Trawler.
    Ich hatte über den Strand und am Vogelschutzgebiet vorbei gehen wollen, überlegte es mir der Windstärke wegen aber anders und verließ den Hof durch das Tor, ließ es offen stehen und bog dann in den Heckenweg zur Straße nach Arromanches. Der Oktober ging über in den November, doch noch waren Strauchwerk und Bäume kaum gelb. In die Büsche links und rechts fuhr der Sturm, Vögel sausten wie vom Wind abgefeuerte Pfeile durch die Luft. Das Rauschen von all dem Dunkelgrün machte mich ruhiger. Ich hatte noch eine halbe Packung Chesterfields und hatte nicht vor, mir neue zu kaufen. Als ich den ersten Rauch in den Wind blies und der ihn schluckte wie ein Hai, fühlte ich mich mit meiner Schere, meinem Schlüssel und meiner Zange gewappnet, und so stiefelte ich drauflos und ließ die unguten Gedanken kommen und wieder verschwinden, bis sich auch gute einstellten.
    Ich rauchte und dachte darüber nach, was Annik über sich und ihren verheirateten Serge gesagt hatte. Es war ernst. Es war anders. Sie wollten niemanden verletzen. Ich versuchte mir Serge vorzustellen, einmal mit Kontaktlinsen, einmal mit Brille. In einer Doppelhaushälfte seine Frau und seine Kinder. In der Auffahrt parkte ein Van.
    Ich versuchte mir vorzustellen, dass Serge auch ein wildes Leben führen wollte, ein festes, sicheres, ehrenhaftes in Carentan, daneben aber das unruhige und unsichere Parallelleben, das er mit Annik führte und das keine Ehe war und mit Ehre nichts zu tun hatte.
    Der Wind fegte die Asche von der Zigarette. An ihrem Glutkegel zündete ich mir die nächste an. Meerwärts, über die Äcker und Stoppelfelder hinweg, sah ich den Dünenwall, er lag da wie eine weiße eingefrorene Welle. Annik tat mir leid, doch vielleicht war das ungerecht. Sie liebte Serge, und er liebte offenbar auch sie, das machte alles andere zweitrangig. Wenn sie klug war, tat sie nichts, um ihr Leben zu ändern. Lass sie klug sein. Lass sie seine fröhliche Geliebte bleiben, solange sie es erträgt, dachte ich. Knicks, freie Felder und die alten windschiefen und einzeln am Straßenrand stehenden Bäume kamen. Links das Vogelschutzgebiet und das L’Angleterre , und dahinter war der Ärmelkanal, weit draußen stemmte sich jetzt doch ein Fischtrawler durch die Wellen und nahm Kurs auf die Irische See.
    Ich versuchte mir Didier Flaubert als Matrose vorzustellen, sein teigiges Gesicht schmal, überzogen vom Salzfilm aus Wind und Wasser. Ich rauchte und dachte zwei Zigaretten lang über die Schiffsausrüstungsprüferin Lilith Muller aus Cherbourg nach, die ich nicht kannte, aber die wie meine tote Schwester aussah und nicht einmal wusste, dass sie eine Doppelgängerin gehabt hatte. Ich fragte mich, welchen Sinn es haben sollte, sie um ein Treffen zu bitten, ihr irgendwo in Cherbourg gegenüberzusitzen und ihr ins Gesicht zu starren. Was hatte ich zu verlieren? Und zu gewinnen? Gab es überhaupt etwas zu gewinnen? Und zu verlieren?
    Die Goldammern, die keine Goldammern sein konnten, waren auf und davon in wärmere Gefilde. Der Wind hatte alle Vögel aus den Dünen vertrieben, nur noch die großen, unantastbaren Möwen sah man am Himmel. Sie hatten mich schon gesehen, als ich noch weit weg ein Mann auf der Landstraße gewesen war. Kaum lief ich über

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