Nie mehr Nacht (German Edition)
wurde, umso unwahrscheinlicher war ein Anruf. Ira hatte immer fest daran geglaubt, dass man das Naturgesetz des Schweigens durchbrach, wenn man aus tiefstem Herzen wollte, dass einen jemand anrief. Ich lehnte mich gegen den Rezeptionstresen und dachte darüber nach, ob ich mit Juhls über ein wie eine Vogelschwinge geformtes dänisches Eiland streifen wollte. Die Vorstellung hatte etwas erschreckend Unwirkliches, und ich fragte mich, ob sich so vielleicht Ira gefühlt hatte. Das tosende Branden auf den Autobahnen und Ausfallstraßen, jetzt wünschte ich es mir zurück, und weit weg die Stille, diesen schweigsamen Verkehr von Gespenstern. Erstmals seit Wochen stieg mir eine Traurigkeit durch die Kehle, die alle Lust am Grübeln verscheuchte. Ich wollte nur noch warten, darauf, dass jemand anrief, darauf, dass sich etwas ereignete, etwas Unvorhersehbares erwarten!
Endlich klingelte es, markerschütternd schallte es durch das ganze Hotel, aber ich stand bloß da, blickte ungläubig zu dem Apparat und hob erst ab, als mir der Lärm schon durch sämtliche Glieder brauste.
Es war wirklich Annik.
Da war ich ja! Wie war das Abschiedsessen verlaufen? Was machte ich jetzt, war es okay, so allein in dem alten gestrandeten Tanker? Wirklich fröhlich klang sie nicht. Sie schien müde, vielleicht übernächtigt, vielleicht hatte sie auch gar nicht geschlafen, sondern nur vergeblich auf ihren Freund gewartet.
»Hatten Sie einen schönen Nachmittag?«
»Es war schön, sehr schön, und sehr kurz, wie immer. Ich freu mich aufs nächste Mal. Vielleicht kann er am übernächsten Wochenende über Nacht bleiben. Seine Frau und die Kinder fahren dann nach Alençon.«
Um das Thema zu wechseln, erzählte ich, was ich vorhatte. Ich erzählte von dem Fahrrad, das nicht weit vom Vogelschutzgebiet in einem Gebüsch lag und das ich mir holen wollte, um es zu reparieren.
»Und wohin wollen Sie radeln?«
Ich radelte nicht, sondern fuhr mit dem Rad. Das Fahrrad sollte mich beweglich halten, und deshalb würde es auch nicht mir gehören. Es war bloß ein zufälliges Fahrrad. Annik sagte ich das nicht. Ab und zu wollte ich nach Marigny, wo es ein Bar-Tabac und einen Krämerladen gab, sagte ich. In Marigny hielt außerdem der Bus nach Bayeux.
»Lilith heißt eigentlich Lilia, Lilia Muller, aber jeder, den ich gefragt habe, nennt sie Lilith.«
»Wen haben Sie denn alles gefragt?«
»Ich habe Séverine angerufen und mich entschuldigt, dass ich versehentlich das Foto eingesteckt habe. Ich soll es irgendwann vorbeibringen … Den Nachnamen fand ich im Netz. Lilith hat auf der Hotelhomepage den Urlaub auf Korsika bewertet, und sie schrieb da, dass sie aus Cherbourg sei. Na ja, und in Cherbourg gibt es nur noch drei Fährbüros, und bloß eins, bei dem eine Lilia oder Lilith Muller arbeitet.«
»Sie haben aber nicht mit ihr gesprochen, hoffe ich.«
»Als ich in Cherbourg anrief, ging nur der Wochenenddienstleiter ran. Lilith, sagte er, ist am Montag wieder da, also morgen. Wollen Sie hinfahren? Ich leihe Ihnen den Wagen.«
»Danke, Annik, das ist nett. Aber ich denke, ich werde darauf verzichten. Ich kenne die Frau ja nicht. Sie sieht zufällig wie meine Schwester aus, das ist alles. Zu wenig und genauso zu viel, um jemandem nachzustellen und ihn in ein Gespräch zu verwickeln, finden Sie nicht?«
»Doch, finde ich auch. Sie haben recht. Pardon. Ich wollte Ihnen nur helfen, Sie wirken so traurig.«
»Sie auch. Und Sie haben mir ja geholfen. Ich würde Ihnen auch gern helfen. Nur fällt mir zu Ihnen und Ihrem Freund kein Rat ein, und darum lass ich’s.«
»Ich weiß ja selbst nicht, was ich davon halten soll!«, seufzte sie und schien allmählich wach zu werden. Da war wieder die frohgemute Verve vom vorigen Nachmittag in ihrer Stimme. »Wissen Sie, Serge und ich, das geht schon sehr lange. Ich war noch ein Huhn. Und er nicht verheiratet. Verstehen Sie? Es ist nicht die bekannte Geschichte. Es ist anders, es ist ernst, und wir versuchen alles, um keinem wehzutun, auch uns selber nicht.«
»Haben Sie heute wieder so silbern geschminkte Augen?«, fragte ich, und da lachte sie so wie gestern in Flauberts Baracke.
Von dem Wochenendchef des Fährbüros hatte Annik außerdem erfahren, dass Lilia Muller für die Ausrüstung der drei firmeneigenen Schiffe zuständig war. Die Fähren pendelten mehrmals täglich zwischen Poole und Cherbourg, und Lilith prüfte, ob die Sicherheitsvorschriften eingehalten wurden und ob es den Besatzungen, dem
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