Nie Wirst Du Entkommen
Vito war auf ihrer Seite und trotzte dem Zorn ihres Vaters. »Wie geht’s ihnen?« Sie musste sich nicht deutlicher ausdrücken.
Ihnen,
damit war die Familie gemeint.
»Dino wird schon wieder Vater. Noch ein Junge.«
»Die arme Molly.« Dann hätten ihr ältester Bruder und seine Frau fünf Jungen. Zwei Neffen, die sie nie gesehen hatte, und drei andere, die sie vermutlich nicht wiedererkennen würde.
»Gino hat gerade einen fetten Vertrag für den Entwurf eines Gebäudes bekommen. Und Tino ist verlobt.«
Ihr Herz krampfte sich zusammen. »Ist sie nett?«
»Ja.« Er schluckte. »Ja, das ist sie. Tess, komm nach Hause.«
Nach Hause.
Der Gedanke weckte Sehnsucht in ihr. »Warum?«
»Weil du mir fehlst. Weil du uns allen fehlst.« Er setzte sich aufs Bett und schloss die Augen. »Dad ist krank.«
Sie spürte einen Stich in den Eingeweiden. »Wie krank?«
»Er hatte einen Herzanfall.«
Sie hob das Kinn. »Nicht zum ersten Mal.«
»Diesmal ist es schlimmer. Er verkauft sein Geschäft.«
Sie wandte sich zum Fenster um. »Will er, dass ich komme?« Vito schwieg, was Antwort genug war. Sie drehte sich wieder zu ihm um, als sie sich gefasst hatte. »Ich muss heute Morgen noch zu Flo Ernst. Ich muss ihr etwas von Harrison ausrichten. Kommst du mit mir?«
Vito stand auf. »Natürlich. Tess, dieser Cop …«
»Aidan? Er ist nett, Vito. Wirklich nett. Er liebt seine Mutter.«
Er lächelte. »Gut. Dann muss ich ihn ja nicht umbringen.«
Sie erwiderte das Lächeln. »Es ist schön, dass du hier bist.«
Mittwoch, 15. März, 8.03 Uhr
Aidan zog den Kopf ein, als er die Tür des Konferenzraums öffnete und vier Augenpaare ihn anstarrten. »Tut mir leid«, murmelte er und setzte sich neben Jack und Murphy. »Was habe ich verpasst?«
»Nichts«, sagte Spinnelli trocken. »Aber Rick platzt gleich, also soll er direkt loslegen.«
»Ich habe eine Spur von den Kameras.« Ricks Grinsen reichte von Ohr zu Ohr. »Die älteste.«
Die Kamera aus Tess’ Dusche. Die Kamera, die den ganzen Morgen schon im Winkel seines Bewusstseins lauerte. Sogar als er sie geküsst, liebkost hatte, hatte ein kleiner, böser Teil von ihm daran gedacht, wer sie alles gesehen haben mochte. »Und?«
»Mir fiel wieder ein, dass dieses Modell einen Schalter im Inneren hat, der umgelegt werden muss, also habe ich nachgesehen.« Rick hielt das Gehäuse der Kamera hoch. »An der Unterseite befindet sich ein Teilabdruck.«
Murphy bedeutete ihm, weiterzumachen. »Ich will hier nicht alt werden, Rick.«
»Wir haben den Abdruck durchs Zentralregister gejagt und eine Reihe von Treffern bekommen«, fuhr Jack fort. »Rick hat einen der Namen wiedererkannt.«
»Es war ein Perverser, der in einer Mädchenumkleide in einer Schule Kameras installiert hat«, erklärte Rick. »Er war angestellt worden, um Leitungen im Gebäude zu verlegen und hat sich selbst einen kleinen Abzweig installiert. Und er hat dasselbe Modell wie dieses hier verwendet.«
»David Bacon«, sagte Spinnelli und schob ein Polizeifoto in die Tischmitte. »Hat drei von fünf Jahren dafür gesessen. Das Gericht hat den Vorfall in Zusammenhang mit Kinderpornographie gebracht, weil die Mädchen minderjährig waren. Vor acht Monaten ist er rausgekommen.«
»Bei seinem Urteil hat er wie ein Baby geheult«, sagte Rick. »Ekelhafter Kerl.«
Aidan starrte auf Bacons Bild und die Beschreibung und zwang seinen Verstand, logisch zu arbeiten. »Er hat geheult? Das passt nicht.« Er zog Tess’ handgeschriebene Notizen hervor. »Tess hat gestern Abend ein Täterprofil erstellt.«
Spinnelli verengte die Augen. »Wann hat sie Ihnen das gegeben?«
Aidan behielt seine ausdruckslose Miene bei. »Ich habe sie heute Morgen gesehen, bevor ich herkam. Da hat sie es mir gegeben.«
Spinnelli nickte, sichtlich ungläubig. »Aha. In welchem Hotel wohnt sie denn?«
»Holyday Inn. Downtown.«
»Aha. Und was sagt das Profil, Aidan?«
Anscheinend würde Spinnelli nichts weiter zu der Sache sagen. Aidan entspannte sich ein wenig. »Tess meint, diese Kombination von Charaktermerkmalen sei ihr bisher noch nicht untergekommen. Auffällig ist jedenfalls die extreme Zielstrebigkeit des Täters. Auf der Basis der Anzahl der Getöteten kann man davon ausgehen, dass die Person männlich ist, und wahrscheinlich nicht mehr allzu jung, da sie Geduld und einiges an Planungsgeschick gezeigt hat. Er ist ein antisozialer Voyeur, gebildet und mit einer Vorliebe fürs Theatralische. Er könnte Schauspieler sein oder gerne ins
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