Nie Wirst Du Entkommen
nickte. »Das ist gut.« Dann sah sie zur Seite, und plötzlich verstand er, wie sie sich gefühlt haben musste, als er sich ihr gegenüber verschlossen hatte.
»Tess, sprich mit mir. Sag mir, was du auf dem Herzen hast.« Er lenkte den Wagen auf einen leeren Parkplatz und legte ihr einen Finger unters Kinn. Ihre Kehle arbeitete, als sie versuchte, die Tränen niederzukämpfen, aber dann fingen sie auch schon an zu laufen. »Bitte. Sprich mit mir.«
»Ich hätte sie umgebracht, Aidan. Sie war wie meine Schwester, aber ich hätte sie erschossen.«
Er verengte die Augen. »Sie hatte es verdient. Sie hat kaltblütig viele Menschen umgebracht, die nichts mit ihr zu tun hatten.«
»Sie war krank.« Sie schluckte hart. »Und ich habe ihr nicht geholfen. Es nicht einmal versucht.«
Er seufzte. Trotz allem, was passiert war, war und blieb er ein Cop. Und sie eine Ärztin. »Weißt du, was ich gestern Abend erkannt habe, als ich in Amys Wohnung stand? Dass ich eine ungeheure Angst hatte, du würdest dich in meinen Verstand schleichen und mir meine Privatsphäre nehmen. Aber dann habe ich begriffen, dass du das nicht bei Menschen tust, die dir wirklich etwas bedeuten. Dadurch hast du dich für Amy und auch Phillip angreifbar gemacht. Aber dadurch stellst du dich auf eine Stufe mit mir. Und auf dieser Basis kann ich mich dir gleichberechtigt fühlen.«
Sie blinzelte. »Ich bin also bei denen, die ich liebe, unfähig … was gut ist.«
Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. »Im Wesentlichen ja.«
Ein Lächeln huschte ihr über die Lippen. »Das ist lieb von dir.« Sie fuhr sich über die Augenwinkel. »Und ich sehe grausig aus.«
»Du bist wunderschön. Tess, vorgestern Nacht habe ich dich gefragt, was du wolltest. Du hast geantwortet, dass du immer nur das eine wolltest. Jemanden, der dich liebt.«
Sie hob das Kinn. »Und du hast gesagt, das schreckt dich nicht ab.«
»Tut es auch nicht. Aber du hast mich nicht gefragt, was ich denn wollte.«
Sie biss sich auf die Unterlippe. »Und? Was wünschst du dir, Aidan?«
Er zögerte verlegen. »Ich wollte immer eine Frau wie meine Mom.«
Sie lächelte. »Die dich bekocht?«
»Das wäre die eine Sache. Aber es geht eher darum, was sie seit vielen Jahren für meinen Vater ist. Früher kam er immer müde, fertig und manchmal traurig von seiner Schicht, und sie war für ihn da. Sie war immer … einfach für ihn da. Und sie liebt ihn für das, was er ist.«
»Das kann man sehen. Sie ist eine wunderbare Frau, Aidan.«
»Und das bist du auch, Tess.« Er nahm ihre Hand und drückte sie an seine Lippen. »Ich denke, ich hatte Angst, dass du mehr tun würdest, als nur da zu sein. Dass du analysieren und beurteilen, mir vielleicht sagen würdest, dass ich verrückt bin, weil ich mich manchmal nämlich so fühle.«
»Das würde ich nie tun.« Sie musste grinsen. »Wie es aussieht, bin ich auf diesem Gebiet unfähig.«
»Aber nur auf diesem. Bei allem anderen bist du ziemlich geschickt. Lass uns mit Carmichael reden.«
Samstag, 18. März, 9.45 Uhr
Joanna Carmichael stand mit einem Koffer in der Hand auf dem Gehweg vor ihrem Haus. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und war blass. Und sie wirkte überhaupt nicht froh, sie zu sehen.
»Miss Carmichael?«, sagte Tess. »Es tut mir leid, was mit Ihrem Freund geschehen ist.«
Joanna betrachtete sie von Kopf bis Fuß. Ihr Blick war nachdenklich, aber seltsam losgelöst. »Dasselbe könnte ich Ihnen sagen.«
Aber sie tat es nicht, stellte Tess fest. »Ich möchte mit Ihnen reden.«
Sie blickte auf die Straße. »Ich muss zum Flughafen. Ich habe nur ein paar Minuten Zeit.«
Tess nickte. »Das sollte reichen. Ich hätte gern gewusst, wie Sie entdeckt haben, dass Amy Miller für Familien im organisierten Verbrechen gearbeitet hat.«
Ein humorloses Lächeln verzog Joannas Gesicht. »Das war nicht gerade schwer. Ich habe nach schmutziger Wäsche gesucht und sie gefunden. Die Geschichte über ihren Freund Jon war lächerlich, aber Amys … wow! Ich wusste ja, dass sie jeden zweiten Sonntag mit den ganzen Ärzten im Blue Lemon abhing, und ich fragte mich, wieso alle diese Ärzte und eine einsame Anwältin. Dann fand ich heraus, dass sie zunächst auch Medizin studiert hat, aber in Kentucky, während Sie dasselbe hier in Chicago getan haben.«
»Wir sind nicht an derselben Hochschule angenommen worden«, erklärte Tess an Aidan gewandt. »Aber später ist sie ohnehin ausgestiegen, weil sie das Sezieren der Leichen nicht
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