Nie Wirst Du Entkommen
jeder Windstoß gegen ihr Fenster sie zusammenfahren.
Jon sah sie über seinem Weinglas finster an. »Klar kannst du auf dich selbst aufpassen. Du tust es bloß nicht. Du bist zehn Blocks im eiskalten Regen bis zum Lemon marschiert. Verdammt, Tess, Robin sagt, du seiest vollkommen eingefroren gewesen, als du angekommen bist. Kein Hut, kein Regenschirm, gar nichts.«
Sie war zu Robins Blue Lemon Bistro gegangen, nachdem Amy ihren eleganten Bühnenabgang hingelegt hatte, und Robin hatte sie mit offenen Armen empfangen, genau wie Tess es erwartet hatte. »Ich hatte Regenschirm und Tasche im Büro vergessen. Hör zu, ich laufe den ganzen Winter über bei schlimmerem Wetter. Ja, mir war kalt, aber ich bin schnell wieder warm geworden. Robin hat mir sofort eine heiße Suppe hingestellt.« Sie bedachte ihn mit einem kessen Grinsen, von dem sie hoffte, dass es seinen finsteren Gesichtsausdruck vertreiben würde. »Und dann hat Thomas mir die Schultern massiert. Wirklich, das Talent dieses Mannes ist in der Küche verschwendet. Er hat magische Hände.«
Jons Lippen zuckten. »Das habe ich auch schon gehört.« Er schüttelte den Kopf und seufzte aufgesetzt geduldig. »Aber wenn du das nächste Mal ohne Geld im Regen stehst, dann rufst du mich einfach an, okay? Ich darf mich nämlich um dich sorgen, weißt du?«
»Meinetwegen, aber jetzt kannst du damit aufhören. Robin hat mir das Taxigeld geliehen, ich habe im Büro meine Sachen geholt und bin dann nach Hause gefahren. Ich habe mich in die heiße Wanne gelegt und mich in kuschelige Klamotten geworfen. Hier, siehst du?« Sie hielt ihm ihren Fuß mit der flauschigen Socke hin.
Jon lachte. »Nur du schaffst es, dass Seide und Flauschsocken zusammenpassen.« Aber dann schwand sein Lächeln rasch. »Wie ernst ist die Lage, Tess? Ich habe mir den ganzen Tag Sorgen gemacht. Und als dann die Sache mit dem zweiten Selbstmord in den Medien war … Man konnte es auf allen Sendern sehen, und jeder Reporter hat deinen Namen mehrmals erwähnt.«
Tess schluckte. Die Leichtigkeit des Augenblicks war vorbei und der Schrecken des Nachmittags zurückgekehrt. »Ich bin keine Verdächtige mehr, meint die Polizei.«
»Das klingt gut. Aber?«
»Aber es war scheußlich. Wie er da lag, den Teddy in der Hand. Er hat sich den halben Kopf weggeschossen, Jon.«
Er legte seine Hand auf ihre. »Es ist nicht deine Schuld, Tess.«
Sie senkte den Blick auf seine Hand. »Alle Menschen, die ihm einmal wichtig waren, hatten ihn verlassen. Seine Frau konnte ihm nicht verzeihen. Er konnte sich selbst nicht verzeihen. Die meisten seiner Freunde konnten ihm nicht mehr in die Augen sehen. Ich war die Einzige, mit der er noch sprechen konnte.«
Jons Hand verschwamm, als Tränen in ihre Augen traten. Der Gedanke daran, wie er sich gefühlt haben musste, war beinahe unerträglich. »Es war entsetzlich«, flüsterte sie heiser. »Richtig obszön.«
»Tess, sieh mich an.« Jons Stimme war so ungewohnt scharf, dass sie unwillkürlich gehorchte. In seiner Miene war eine Mischung aus Loyalität, Wut und Sorge zu lesen. Er wischte ihr mit dem Daumen die Tränen ab. »Du darfst dir das nicht antun, Liebes. Wie oft haben wir schon darüber gesprochen, wie ungesund es ist, sich zu stark auf die Patienten einzulassen?«
Ihr Temperament bäumte sich auf und verlieh auch ihrer Stimme eine gewisse Schärfe. »Für dich ist das etwas ganz anderes. Deine Patienten sind die meiste Zeit weggetreten. Sie sind nicht viel anders als Rinderhälften.«
Jon nahm ihre Bemerkung mit Gleichmut hin. »Und genau das gefällt mir daran. Ich kann mich nicht so auf ihr Schicksal einlassen wie du, Tess. Zum Glück, denn das würde mich auffressen. Und ich würde jedes Mal nervös werden, wenn ich mein Skalpell in die Hand nehme. Was meine Patienten das Leben kosten könnte.«
Sie seufzte. »Ja, ich weiß. Professionelle Distanz. Du kannst das, ich nicht. Hundert Gummipunkte an dich.«
Sein Lächeln war reuig. »Es gibt wohl nicht wenige, die dir die Punkte zuschreiben würden. Ich meine nur, dass du deine Kraft nicht überschätzen sollst, Mädchen. Du bist eine gute Ärztin, weil dir deine Patienten am Herzen liegen, aber was musst du dafür bezahlen? Zu viel, meiner Meinung nach. Vielleicht solltest du mal über die Auswahl deiner Patienten nachdenken. Diese Suizidgefährdeten machen dich auf Dauer fertig.« Plötzlich erhellte sich seine Miene, und Tess war erleichtert. Bis er zu reden fortfuhr. »Wie wär’s zur Abwechslung mit
Weitere Kostenlose Bücher