Nie Wirst Du Entkommen
besorgt?«
»Ja. Ich hatte beide angefordert.« Aidan schob das Polizeifoto von Melanie in die Tischmitte, während Murphy in Jacks Stapel nach einem Abzug des Fotos suchte, das sie in Cynthia Adams’ Wohnung gefunden hatten.
»Es sind dieselben«, sagte Murphy. »Selbe Haltung, selbe Kleider. Nur der Hintergrund ist anders. Der vom Polizeifoto wirkt irgendwie flacher. Der hier«, er tippte auf das neuere Bild, »ist glänzender. Wirkt plastischer.«
»Das kann man mit Photoshop hinkriegen«, sagte Aidan und begegnete Murphys verblüfftem Blick. »Ich habe auf dem College einen Grafikkurs belegt. Photoshop ist ein Softwareprogramm. Man kann ein Bild damit beinahe unendlich bearbeiten. Jemand, der sich damit auskennt, könnte es so aussehen lassen, als hätte Melanie am Eiffelturm gebaumelt.«
»Das heißt, jemand hat Zugang zu unseren Akten«, murmelte Spinnelli. »So ein Mistkerl.« Er lehnte sich zurück und starrte ins Leere. Es war ihm anzusehen, dass ihm nicht behagte, was sich da anzudeuten schien.
Eine lange Weile herrschte totale Stille. Dann sprach Aidan aus, was kein anderer zu sagen bereit zu sein schien. »Da wäre noch eine Gruppe, die etwas gegen Tess Ciccotelli haben könnte.«
Spinnelli begegnete seinem Blick, und Aidan erkannte, dass sein Chef bereits zu demselben Schluss gekommen war. »Wir«, sagte er.
Aidan nickte. »Wir.«
Spinnelli sah zur Seite und schloss die Augen mit einem knappen Kopfschütteln. »Murphy, gehen Sie ins Archiv. Tun Sie so, als hätten Sie sich mit Aidan schlecht abgesprochen und wollten jetzt Ihrerseits die Akten einsehen. Fragen Sie nach den Büchern. Wir müssen herausfinden, wer vor uns Einsicht in die Akten verlangt hat.« Er sah die drei Männer mit eindringlichem Blick an. »Im Augenblick behalten wir diese Sache noch für uns. Wenn es sein muss, werde ich allerdings die Dienstaufsichtsbehörde heranziehen.«
»Wir können nicht sicher sein, dass es mit zwei Leichen getan ist«, gab Murphy leise zu bedenken. »Wir müssen Tess’ Patientenkartei durchsehen.«
Jack zog voller Unbehagen den Kopf ein. »Sie wird sie euch aber nicht überlassen. Ärztliche Schweigepflicht.«
»Seien wir so höflich und bitten sie erst darum«, sagte Spinnelli. »Wenn sie nein sagt, holen wir uns die richterliche Anordnung. Bis dahin suchen wir nach jemandem, der über Medikamente Bescheid weiß und sich mit Computern auskennt. Vielleicht ist es die Frau auf dem Video, vielleicht aber auch nicht. Und jetzt verschwindet und besorgt mir etwas, mit dem wir arbeiten können. Wir treffen uns morgen früh um acht Uhr wieder hier.«
Damit waren sie entlassen.
Murphy warf Aidan einen Seitenblick zu, als sie zu ihren Schreibtischen gingen. »Ruf mich an, wenn du mit ihr gesprochen hast.«
»Was soll das heißen, wenn
ich
mit ihr gesprochen habe. Du fährst mit.«
Murphy schüttelte den Kopf. »Du hast es doch gehört. Ich vergrabe mich im Archiv.«
»Elender Feigling«, brummelte Aidan. »Du willst ihr bloß nicht gegenübertreten.«
»Sie wird sowieso nicht mit mir reden. Sie ist noch immer gekränkt. Im Übrigen bist du doch derjenige, der gerne ihren Bewegungen zusieht.«
»Halt die Klappe, Murphy.«
Sie hatten ihre Plätze erreicht, und Aidan griff nach seinem Mantel. »Ich habe den ganzen Tag über noch nichts wegen Danny Morris unternehmen können. Diese Parodie von Vater ist immer noch frei, während sein Sohn im Leichenschauhaus liegt.«
»Dann fahr auf dem Weg zu Tess an der Bar vorbei, wo Morris sich normalerweise besäuft. Vielleicht hast du ja Glück, und er ist auf ein Gläschen eingetrudelt.«
»Während du im Archiv vor dich hindümpeln kannst. Das ist unfair, Murphy.«
»Das Privileg der Dienstälteren, Reagan. Und tschüs.«
Montag, 13. März, 23.15 Uhr
Tess beugte sich über den Stapel Akten auf dem Tisch, um Jon aus der Flasche mit dem guten Merlot nachzufüllen. »Du musst nicht dauernd nach mir sehen, das weißt du, oder? Ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen.« Obwohl sie zugeben musste, dass sie für die Unterbrechung durch Jons Besuch dankbar war. Seit Stunden sah sie die alten, richterlich angeforderten Gutachten durch, und der Gedanke, dass einer von den Leuten für den Tod zweier ihrer Patienten verantwortlich sein könnte, war alles andere als erhebend. In ihrer Wohnung war es viel zu still. Normalerweise konnte sie sich mit der Stille abfinden, sie manchmal sogar genießen, aber an diesem Abend ließ jedes Knacken, jedes Knistern und
Weitere Kostenlose Bücher