Nie Wirst Du Entkommen
Sanitäter mit einem aufmunternden Lächeln und sanften Händen entfernt worden. Ihre Füße waren nackt. Der Sanitäter hatte ihr zwar ein Paar Füßlinge mit Gumminoppen an den Sohlen gegeben, aber sie hatte nicht die Kraft, sich vorzubeugen und sie überzustreifen.
Einer ihrer Schuhe war so besudelt mit dem Blut und der Hirnmasse der Sewards, dass sie ihn nicht mehr gebrauchen konnte. Der andere, den sie bis in den Flur geschleudert hatte, stand neben ihrer Hüfte auf dem Boden. Als ob sie ihn je wieder tragen würde. Sobald sie zu Hause war, würde jeder Fetzen Stoff, den sie am Leib trug, in den Müll wandern. Sobald sie zu Hause war, würde sie sich unter eine kochend heiße Dusche stellen und Haare und Haut schrubben, bis kein einziger Tropfen warmen Wassers mehr aus der Brause kam. Aber auch dann würde sie sich nicht sauber fühlen. Sobald sie nach Hause kam, konnte sie ebenso gut die Flasche Rotwein von gestern leeren, bis die Ereignisse der letzten Stunden im Rausch verschwammen.
Aber es würde nichts nützen. Denn wenn sie erwachte, würde der Alptraum andauern. Malcolm und Gwen würden immer noch tot sein. Genau wie Cynthia und Avery.
Wegen mir.
Ihr Verstand sagte ihr, dass das nicht stimmte, aber ihr Verstand sagte ihr auch, dass es niemand kümmern würde, sobald die Zeitungen morgen den Artikel brachten. Die Wahrheit war, dass diese Menschen ihr vertraut hatten. Die Wahrheit war, dass vier Menschen gestorben waren.
Wegen mir.
Die Leute von der Gerichtsmedizin rollten die Leichen an ihr vorbei. Ein großer Sack, ein kleiner. Sie lehnte den Kopf an die Wand und schloss die Augen. Das war ein Bild, das sie ihrer Erinnerung nicht auch noch hinzufügen wollte, aber sie wusste, dass es trotzdem eine lange, lange Zeit bei ihr bleiben würde, was immer sie sich auch wünschte. Was immer sie ihrem Gehirn zu vergessen befahl.
»Tess?«
Sie schlug die Augen auf und sah Aidan Reagan vor sich stehen. Sein Blick war wachsam, als fürchte er, dass sie zusammenbrechen könnte. Sie legte sich die eiskalten Finger an die Wangen. »Sie brauchen jetzt meine Aussage.«
»Wenn Sie meinen, dass Sie dazu in der Lage sind.«
»Bin ich.« Sie wollte sich hochstemmen und auf die Füße kommen, hielt aber verblüfft inne, als er in die Hocke ging und ihr die Socken anzog, als sei sie ein Kind. Dann drehte er sich um und setzte sich neben sie an die Wand. Sie spürte seine Wärme und schauderte, während sie versuchte, nicht daran zu denken, wie seine Arme sich um ihren Körper angefühlt hatten. Wie fest er sie gehalten hatte. Wie gut es sich angefühlt hatte. Wie sicher. Wie sein Herz gehämmert hatte. Er hatte auch Angst gehabt. Und doch hatte er seinen Job sicher und zuverlässig erledigt. Sie schuldete ihm ihr Leben. Der Gedanke daran, wie anders diese Situation hätte enden können, ließ sie erneut schaudern.
»Ihnen ist kalt«, sagte er tonlos. »Guter Gott, Frau, sind Sie etwa ohne Mantel von Ihrer Praxis hergelaufen?« Er nahm seinen eigenen Mantel und legte ihn ihr über die Schultern, bevor sie protestieren konnte. »Widersetzen Sie sich nicht, Tess«, warnte er, als sie Anstalten machte, ihm den Mantel zurückzugeben. »Sie sehen aus, als würde jedes Kleinkind Sie umhauen können.«
»Der wird aber blutig«, murmelte sie. Er nahm ihre Hand zwischen seine und rieb sie, um die Blutzirkulation anzuregen.
»Das macht nichts. Gott, Ihre Hände sind wie Eisklumpen. Warum haben Sie denn nichts gesagt?«
Sie lehnte sich gegen die Wand zurück. Sie war plötzlich so müde. »Sie waren alle ziemlich beschäftigt.« Die Aktiviät um sie herum schien zu einem Summen zusammenzuschmelzen, das sie als Symptom eines akuten Erschöpfungszustands kannte. »Habe ich schon danke gesagt?«
Er nahm ihre andere Hand und wärmte sie. »Ja«, sagte er, nun sanft. »Haben Sie. Erzählen Sie mir von dem Anruf.«
»Ich hatte gerade eine Patientin.« Wer war es noch gleich gewesen? Ach ja. Mrs. Lister. »Denise hat das Gespräch angenommen. Die Frau wollte nur mit mir reden. Sie hörte sich ziemlich gelangweilt an.«
»Klang sie wie dieselbe Frau?«
»Nein. Sie klang auch weder jung noch alt. Nur gelangweilt. Sie sagte, dass Malcolm Seward und seine Frau einen Streit hätten.« Er hatte aufgehört, ihre Hand zu reiben, ließ sie aber nicht los. Sie hätte sie wegziehen können, tat es aber nicht. Konnte es nicht. »Malcolm hätte seine Frau gerade niedergeschlagen.«
»Wann war das?«
»Vielleicht ein paar Minuten, bevor ich
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