Nie Wirst Du Entkommen
In seinen blauen Augen waren Verständnis und Mitgefühl zu lesen. Keine Verachtung. Keine Anklage. Zu ihrem Entsetzen füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Danke«, flüsterte sie. »Für alles.«
Er lächelte. »Gern geschehen. Ich denke, das war ich Ihnen schuldig.«
Sie sog schaudernd die Luft ein. »Dann sind wir jetzt ja quitt, Detective.«
Sein Lächeln verdüsterte sich leicht. »Also gut. Unten steht eine ganze Armee Reporter. Wollen Sie so hinaustreten oder brauchen Sie Deckung?«
Tess straffte ihr Rückgrat. »Das schaffe ich schon. Aber nehmen wir bitte die Treppe.«
Er schwieg, während er sie durch das Treppenhaus begleitete und anhielt, wann immer sie sich ausruhen musste, was weit öfter vorkam, als sie für möglich gehalten hätte. Die Eingangshalle des Gebäudes war mit Polizisten gesäumt, die die Reportermeute zurückhielt. Aidan nickte einem der Uniformierten zu.
»Sie können die evakuierten Bewohner jetzt wieder in ihre Wohnungen lassen«, sagte er. Dann öffnete er die Eingangstür. »Geben Sie keinen Kommentar ab. Sagen Sie am besten gar nichts.«
Er klingt wie Amy,
dachte Tess. Es war zu vermuten, dass weder Amy noch Reagan den Vergleich zu schätzen wussten. Aber der Gedanke verlor sich im Meer der Gesichter und Blitzlichter, als sie durch das Mediengetümmel gingen. Mindestens dreißig Menschen standen vor dem Haus, einige mit Kameras auf der Schulter, andere mit Mikrofonen in der Hand.
Kameras.
Der Anblick erinnerte sie wieder an die Kameras, die die Polizei in den Wohnungen entdeckt hatte. Damit waren die letzten Atemzüge ihrer Patienten aufgezeichnet worden. Mikrofone. Vielleicht gab es welche in ihrer Praxis.
Lieber Gott.
Wieder wurde ihr übel, und das war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Sich jetzt zu übergeben, würde sich wunderbar in den Abendnachrichten machen.
Ein Mikrofon wurde ihr ins Gesicht geschoben. »Ist Malcolm Seward tot? Stimmt es, dass Sie bedroht wurden?«
Mit der einen Hand fasste sie Reagans Mantel vor der Brust zusammen, mit der anderen schob sie das Mikrofon zur Seite und ging stur weiter, Reagan an ihrer Seite. Nun sah sie, dass Todd Murphy mit seinem Wagen auf der anderen Straßenseite wartete.
Nur noch eine Minute.
»Ist auf Sie geschossen worden?«
»Haben Sie Gwen Seward sterben sehen?«
»Stimmt es, dass Malcolm Seward sich selbst getötet hat?«
Das Bombardement der Fragen schmolz in ihrem Bewusstsein zu unbedeutenden Worten zusammen, bis eine perfekt gestylte Blondine ihnen in den Weg trat. Das Leuchten in ihren Augen und das aufgesetzte Lächeln ließ alle Alarmglocken in Tess’ Kopf schrillen. Leider einen Moment zu spät. »Dr. Ciccotelli, ich bin Lynne Pope von
Chicago on the Town.
Hat die Tatsache, dass Malcolm Seward seine Homosexualität verbarg, zu seinem Selbstmord geführt?«
Die Menge um sie herum schnappte unisono nach Luft. Hier und da war ungläubiges Gemurmel zu hören.
Es war nur Aidan Reagans Hand an ihrem Arm zu verdanken, dass sie weiterging, statt entsetzt zur Salzsäule zu erstarren. Rasch setzte sie eine ausdruckslose Miene auf, doch es war zu befürchten, dass ihre erste schockierte Reaktion auf die Frage der Reporterin genügend Futter für Klatsch geboten hatte. »Ich kann im Augenblick keinen Kommentar dazu abgeben.«
Lynne Pope lief ihnen hinterher, das Lächeln im Gesicht festgetackert. »Aber Malcolm Seward war doch schwul«, sagte sie. »Sie selbst haben das doch heute Nachmittag bestätigt.«
Um Tess’ ausdruckslose Miene war es geschehen, als ihr jeder Tropfen Blut aus dem Gesicht wich. »Wie bitte?«
Murphy riss die Tür des Wagens auf. »Steigen Sie ein, Tess.«
Pope trat ihr in den Weg. »Ich weiß nicht, was für ein Spielchen Sie spielen, Doktor«, presste sie durch ihre lächelnden Zähne hindurch, »aber ich denke nicht daran, mich von Ihnen ködern zu lassen. Wenn Sie denken, Sie könnten mich extra hierherbestellen und mir die Story des Jahres versprechen und mich dann mit einem ›Kein Kommentar‹ abspeisen, dann sind Sie schief gewickelt. Um acht Uhr wird meine Geschichte gesendet, und ich werde auch die Aufnahme veröffentlichen, in der Sie mir sagen, dass Malcolm Seward eine Bedrohung für die Menschheit ist, weil er seine Homosexualität vor sich selbst leugnet.«
Tess verharrte vollkommen reglos, als die Folgen dessen, was diese Frau da sagte, in ihrem Kopf explodierten.
Die Medien.
Der Mistkerl hatte das Geheimnis ihres Patienten an die Medien verkauft. Natürlich
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