Nie Wirst Du Entkommen
Sie angerufen habe. Ich sagte Denise, sie sollte den Notruf wählen, und war aus der Tür.« Sie runzelte die Stirn. »Die Polizei hat ewig gebraucht, bis sie da war. Ich war mir sicher, dass sie schon vor mir eintreffen müssten.« Sie schaute auf und sah, dass er sie anblickte. Die Augen eines Cops, dachte sie. Mit Absicht ausdruckslos. »Ich wollte nicht die Heldin spielen, Detective. Aber da war niemand sonst, der etwas hätte tun können. Er hatte die Tür eingetreten, und ich wusste, dass er gewalttätig werden konnte, wenn er wütend war. Und ich wusste auch, dass er wirklich Angst hatte, sich eines Tages an seiner Frau zu vergreifen. Er hatte sie an der Kehle gepackt und …« Ihre Stimme brach, und er drückte ihre Hand.
»Lassen Sie sich Zeit, Tess.«
Sie straffte die Schultern und zwang sich, weiterzusprechen. »Er tobte und brüllte, dass ich seine Frau angerufen und sein Geheimnis verraten hätte. Sie hätte gedroht, ihn zu verlassen, aber niemand würde ihn verlassen, sagte er. Dann hat er sie erschossen.« Ihr ganzer Körper erbebte, und sie hielt sich an seiner Hand fest. »Und dann hat er sie einfach fallen lassen. Ich wollte weglaufen, aber er war schneller. Und dann …« Ihr Atem wollte ihr in der Kehle stecken bleiben, aber sie holte starrsinnig Luft. »Und dann hat er mir die Pistole an den Kopf gehalten. Gerade als die Cops hereinplatzten.«
»Warum war er bei Ihnen in Behandlung?«
Sie stieß ein humorloses Lachen aus. »Wutkontrolle war das, wovon zuerst die Rede war. Er hatte eine Strafe bekommen, weil er einem anderen Spieler bei einer Schlägerei die Nase gebrochen hatte.«
»Daran erinnere ich mich.«
»Das Team-Management auch. Sie bestanden darauf, dass er sich professionellen Rat holte.«
»Und so kam er zu Ihnen.«
»Nein. Zuerst ging er zum Beweis für seinen guten Willen zum Team-Arzt. Dann kam er zu mir, weil er wirklich Hilfe brauchte.« Sie begegnete seinem Blick. »Er war schwul, Detective. Er hatte es jahrelang verborgen, es immer abgestritten, sogar vor sich selbst. Aber seine Bedürfnisse waren so stark, dass er sie nicht mehr länger kontrollieren konnte. Er hatte eine Frau, eine Karriere. Er hatte höllische Angst, dass er alles verlieren würde, wenn es herauskam. Und da er nun einmal Malcolm Seward war, konnte er nicht einfach abtauchen. Man erkannte ihn überall. Man würde ihn fertigmachen. Also tat er nichts. Und wurde immer zorniger.«
Reagans Blick hatte einmal überrascht geflackert, war nun aber wieder ausdruckslos. »Wurde er erpresst?«
»Das glaube ich nicht, aber ich bezweifle, dass er es mir gesagt hätte. Ehrlich gesagt kamen wir in der Therapie keinen Schritt weiter. Er behauptete, er könne es unterdrücken. Er hatte bisher seine Frau oft genug … befriedigen können, dass sie nichts ahnte, aber die Situation änderte sich. Sie wollte ein Kind, Malcolm nicht. Sie beschuldigte ihn, eine Affäre zu haben.«
»Was für eine Ironie«, sagte Aidan ruhig.
»Ja. Und er wurde immer wütender, attackierte wahllos Fremde.« Sie seufzte traurig. »Attackierte Gwen. Es fraß ihn innerlich auf. Er liebte Gwen, das tat er wirklich. Er wollte ihr nicht wehtun oder sie beschämen. Sie waren seit der High School zusammen. Aber sie war sehr konservativ erzogen worden. Sie hätte seine Homosexualität nicht akzeptiert.« Sie schluckte. »Aber jetzt ist das wohl nicht mehr wichtig.«
Er drückte ihre Hand, machte aber keine Anstalten, sie mit leeren Phrasen zu trösten, und das wusste sie zu schätzen. »Wie ist Seward auf Sie gekommen?«
»Durch die Gelben Seiten. Er traute keinem seiner Freunde genug, um nach einer Empfehlung zu fragen. Er zog es vor, dass sie an Wutbewältigung glaubten, weil das etwas war, was die meisten wohl nachvollziehen konnten. Dass Gwen nichts davon erfuhr, war für ihn allerdings das Wichtigste.« Tess schloss die Augen. Die segensreiche Taubheit verflüchtigte sich, und ihr Verstand setzte wieder ein. Sie musste an die Unterhaltung mit Harrison beim Lunch denken. Nur wenige Stunden zuvor hatte sie sich fast davon überzeugen können, dass jemand ihre Patienten in der Kartei der psychiatrischen Abteilung im Krankenhaus gefunden hatte. Nun musste sie den Tatsachen ins Gesicht sehen. »Die einzige Möglichkeit, dass jemand auf alle drei Opfer stoßen konnte, ist die, dass er meine Praxistür vierundzwanzig Stunden am Tag beobachtet oder irgendwie meine Unterlagen in die Hände bekommen hat.« Allein der Gedanke verursachte ihr
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