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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Graf
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Normalgewicht.
    Zweifelsfrei war in höheren Lagen mehr Schnee, zumindest musste er davon ausgehen. Ein Teil davon würde im Laufe des Tages schmelzen; die Morgensonne versprach sommerlich hohe Temperaturen. Es brauchte nicht viel Optimismus, um zu hoffen, dass die Kletterpartie schneefrei sein würde; an einer senkrechten Wand blieb lediglich in den Ritzen und Tritten ein wenig Schnee liegen, der bald geschmolzen sein würde. Vermutlich würden die zwei Stunden vorher wegen tiefen Schnees anstrengend werden; ein Teil davon war ein steiler Aufstieg, der andere hoch oben ein schmaler Grat. Im schlimmsten Fall bräuchten sie für diese Passagen vier oder, mit Pausen, viereinhalb bis fünf Stunden.
    Doch wenn man das Vorhaben von der anderen, der Kontraseite betrachtete, schien es trotz Sonne und warmen Temperaturen viel zu riskant. Auf 3500 Metern über Meer lag vermutlich so viel Schnee, dass sie hier, tausend Meter weiter unten, nicht einmal in der Lage waren, sich die Konsequenzen vorzustellen: bei jedem Schritt den Fuß bis zur Hüfte anheben, dabei auf dem anderen Bein den Körper mit dem Gewicht des Rucksacks balancieren, jeder Schritt eine Kraftanstrengung; langsamstes Vorankommen, bei dem selbst die Bewältigung von hundert Metern wie eine Ewigkeit erschien; erhebliche Verschlechterung der Moral, der ohnehin angeschlagenen Stimmung; möglicherweise eine hohe Lawinengefahr, sodass bei jedem Hang von Neuem entschieden werden musste, ob und wie er passierbar war. Hinzu kam die Tatsache, dass ein Wetterumschwung hin zu Schneefall, Regen oder, vielleicht am schlimmsten, starkem Nebel jederzeit und in wenigen Minuten möglich war.
    Nüchtern betrachtet gab es nur eine Antwort, die von Verantwortungsbewusstsein zeugte: Abbruch der geplanten Wanderung!
    André kratzte sich am Nacken. Der Fehler war in Berlin geschehen, als er ohne nachzudenken davon ausgegangen war, dass die Route um diese Jahreszeit machbar sei. Sie im Hochsommer oder in einem Spätsommer in Angriff zu nehmen, das wäre klug gewesen. Selbst dann hätte sie ihre Kräfte herausgefordert, vor allem die von Louise.
    Die Entscheidung war gefallen. Jetzt hatten sie keine Eile mehr.
    Gemütlich stapfte André durch den Schnee, der einige Meter von der Hütte entfernt, wo die Sonne hinschien, nur noch wenige Zentimeter tief war, ging zu dem Wegweiser und studierte die Schilder. Wenn er die Wanderkarte richtig im Kopf hatte– sämtliche Alternativrouten waren von ihm lediglich zu Beginn der Planung kurz betrachtet worden–, führte der eine Weg auf einem breiten Grat und in nur leichter Steigung durch ein beidseitiges Panorama, das Louise gefallen musste. Später ging es bergab; irgendwo könnten sie ihr Zelt aufspannen und übernachten und am nächsten Tag weiter abwärts zu einem Dorf wandern, wo Züge oder Postautos fuhren.
    In der Vorstellung fühlte sich diese Alternativroute minimalistisch an; doch was blieb ihnen anderes übrig, es ging um ihre Sicherheit! Und bestimmt war dieser Weg auch schön, zumindest bequem, was Vorteile hatte– weshalb sich die ursprünglich geplante Tortur antun?
    Als André sich umdrehte, sah er, dass Louise aus der Berghütte trat. Sie streckte sich, und ihr Gesicht strahlte, zum ersten Mal auf der Wanderung, vielleicht wegen des Wetters!
    Sie gingen aufeinander zu. Louise trug nur ein T-Shirt, fror an der Sonne jedoch nicht. Arm an Arm standen sie da, André spürte, wie die Härchen an seinen Unterarmen sich an Louises Haut, an ihren wenigen und viel feineren Härchen festhakten, und sie blickten auf die Berge, die wie putzige, gutmütige Riesen ihre Häupter sonnten, nebeneinander stehend brav eine Reihe bildeten wie Kinder in der Schule. Die weißen Spitzen, die wie Mützen aussahen, reichten weit in den Himmel hinauf, als könnten sie ihn berühren; das makellose Blau machte froh.
    Auch das Tal war besonnt, winzig hoben die kleinen Dörfer und Häusergruppen, da und dort auch eine einzelne Hütte sich farblich ab, aber das Dorf, von dem aus sie gestartet waren, blieb hinter dem Berg, auf dem sie standen, verborgen. André fiel auf, dass der sesselgroße Stein, der am vergangenen Abend noch im Regen geglänzt hatte, bereits trockene Stellen aufwies– bald konnte man sich auf ihn setzen und picknicken. Wahrscheinlich war am Nachmittag selbst die Wiese trocken genug, dass man sich hinlegen und sonnen konnte. Die gemütliche Alternativroute ließ solche Pausen zu; ab nun kannten sie weder Eile noch ein ehrgeiziges Ziel,

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