Niedergang
noch konnte er nicht verstehen, dass sie ihm ihren richtigen Namen nicht früher gesagt hatte. Noch heute ärgerte er sich darüber.
Mit solchen Gedanken im Kopf stieg er hoch. Hochsteigend klarte in seinen Gedanken die Falschheit Louises auf. Wie verschieden sie beide waren!
Endlich lag, beinahe greifbar, vor André, was auf der Karte mit so vielen, eng beieinanderliegenden Höhenkurven dargestellt war, dass man sie fast nicht mehr voneinander unterscheiden konnte: der Kamm, der zur Kletterwand führte. Selbst der Ausläufer, auf dem er sich noch befand, wurde nun so steil, dass er beinahe klettern musste. Um wegen des Gewichts seines Rucksacks nicht nach hinten zu kippen, nach unten zu purzeln, ließ er sich nach vorn fallen, nur wenige Zentimeter, und schon sanken die Hände in den Schnee. Dieses Stück wollte er auf allen vieren zurücklegen, ein Kraftakt zwar, aber mit absehbarem Ende: hundert Meter vielleicht, etwa die Höhe des rutschigen Feldes, das er vorhin durchquert hatte.
Dumm, dass er keine Handschuhe dabeihatte! Jetzt erinnerte er sich, dass sie früher zwar im T-Shirt durch den Schnee gewandert waren, aber Handschuhe getragen hatten. An den Händen fror man mitunter am schnellsten; sie mussten ja keine Bewegungen ausführen. Er ärgerte sich, dass ihm dieser Fehler unterlaufen war– aber er war zäh, und die Finger konnte er später wieder aufwärmen. Längst waren sie klamm, schmerzten, zwangen ihn mit Schmerzen, sie zu schonen.
Doch schon war die Passage geschafft, und er ging wieder aufrecht, wie ein Mensch. Meter für Meter wurde der Ausläufer schmaler, bis er schließlich nur noch hüftbreit war. Der Schnee darauf bildete ein Giebeldach mit einer vom Wind geschärften Kante.
André trat sie ein, stampfte einen Fußpfad. Bei jedem ungenauen Tritt rutschte er links oder rechts hinunter; falls er sich einmal mit dem anderen Bein und den Armen nicht auffangen könnte, würde er hinuntersausen wie auf einer Rutschbahn. Im Grunde konnte nichts geschehen, er müsste bloß wieder hinaufklettern– außer, eine Lawine löste sich.
Der Kamm lag immer noch ein Stück weit entfernt. Hatte André sich vorhin getäuscht? War es weiter, als er gedacht hatte, war er einer optischen Täuschung aufgesessen?
Jetzt wurde es ihm doch zu schmal und zu rutschig; wieder ging er mit den Händen zu Boden. Einem Tier gleich, umklammerte er mit seinen vier Beinen die Kante, auf der er sich fortbewegte, umklammerte sie wie einen schräg in der Luft hängenden Baumstamm, auf dem er halb saß, halb lag, unter sich Hunderte Meter Luft, darunter Wald, Felder, Hausdächer… aber unter ihm: keine Zivilisation, nur weißes Gebirge.
Befand er sich wirklich auf dem richtigen Weg? Es schien ihm unwahrscheinlich, aber wo sonst sollte der Weg entlangführen? Und der Kamm lag vor ihm, greifbar mit hundert Meter langen Riesenarmen. Der Himmel leuchtete noch immer so blau, dass André misstrauisch wurde, sich fühlte, als wäre er Teil eines grellen Bildes.
Einen erstaunlichen Anblick boten die anderen Berge, die sich weit unter ihm befanden, viel weiter unten als früher; jetzt sah es nicht mehr nur so aus, sondern war Tatsache. Der Horizont lag tief, als wäre André im Himmel. Und ihn überkam das Gefühl, auf einem Hochseil zu gehen, unweigerlich bald abstürzen zu müssen, weil das Seil, auf dem er ging, immer dünner wurde.
Er robbte weiter, robbte halb auf allen vieren, halb rittlings den Ausläufer hoch, weiter und weiter, und nach einer schier endlosen, blinden Anstrengung erreichte er ein kleines Plateau. Er schaute auf den zurückgelegten Weg, so steil und rutschig, dass er ihn nicht vorwärts hätte hinuntersteigen wollen. Wie am nächsten Tag zurück?
Weiter! Er schaute nach vorn, schaute hoch. Eine Wand hatte er vor der Nase, er stand am Fuße des Kamms! Vor ihm ein beinahe senkrechter Aufstieg mit seltsamen, sesselartigen Schneehöckern, vermutlich Felsen, und schräg nach oben laufenden Kanten– das mussten die Fußpfade sein. Es sah aus, als wäre der Abhang einmal entstanden, indem eine Felsschicht weggebrochen war, vor Tausenden von Jahren, und dort oben, André schaute hoch, dort oben war dieser königliche Kamm, wie gemacht für ein Kalenderbild.
Da musste er hinauf. Und auf dem Kamm– leider konnte niemand ihn fotografieren– zur Kletterwand gelangen, die sich links davon wie die Mauer eines Turmes erhob. Auf einem Kalenderbild wäre das Abenteuer, diese totale Abgeschiedenheit festgehalten. Wie
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