Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
schließlich gehört dies zu einer guten Wissenschaft, auch wenn es gern von ihren Theoretikern übersehen oder gar verschwiegen wird. Darüber hinaus zeigt sich hierin, dass Bohr – sicher unbewusst – den Standpunkt der Romantiker akzeptierte und nutzte: Wenn er die Elektronen von einer Bahn auf eine andere springen lässt, kann er weder angeben, warum sie so agieren, noch wie sie dabei im mechanischen Detail vorgehen. Er lässt den eigentlichen Übergang im Unklaren.
Man kann diesen historischen Befund auch anders ausdrücken: In dem Bohr’schen Modell des Atoms stecken zwar viele irrationale Gegebenheiten, aber durch ihre unersetzliche Präsenz wird erkennbar, wie Menschen zur Einsicht in Gebilde wie Atome kommen, die ihrer Wahrnehmung entzogen und für sie unsichtbar bleiben. Man
begreift sie und ihre Wirklichkeit in dem Augenblick, in dem man das logisch-rationale Gerüst der klassischen Physik um kreativ-irrationale Elemente bereichert und durch die geeignete Kombination aus diesen widersprüchlichen Elementen ein tragbares Gesamtbild entwirft. Bohr billigt zum einen der Natur zu, eine Tendenz zur Formenbildung zu haben, zum anderen erlaubt er dem verstehen wollenden Menschen, seinem Gegenstand ebenfalls eine entsprechende Form – »im allgemeinsten Sinn« (Bohr) – zu geben. Es ist die Gestalt, die Einbeziehung der Morphogenese, die den historischen Rang seines Entwurfs ausmacht und mit der er sein Modell der Materie vorstellt, um die Qualität des entworfenen Atoms mit den Quantitäten der Daten abzusichern.
Wenn hier von Irrationalität die Rede ist, dann geht es um Bausteine der Theorie oder des Modells, für die keine rationale Quelle angegeben werden kann, wie Bohr eingeräumt hat. Dazu gehören das Quantum, das Planck eingeführt hat, die Balmer-Formel, die der Schweizer Mathematiker mehr als Künstler angegangen ist und weniger als Logiker abgeleitet hat, sowie die unerschütterliche Überzeugung Bohrs, dass Rutherfords Modell mit seinem Kern etwas mit der physikalischen Wirklichkeit zu tun hat, die einen Akt des Vertrauens darstellt und nicht alle experimentellen Details benötigte. Was Bohr 1912/13 in Manchester unternahm und den ersten Zugriff des wissenschaftlichen Denkens auf die Atome erlaubte, kann man somit als Kombination aus den beiden großen Traditionen von Aufklärung und Romantik deuten und dadurch kulturhistorisch einordnen: Bohr akzeptierte die etablierte Universalität der höchst rationalen klassischen Physik und berechnete mit ihrer Hilfe die möglichen Bahnen, auf denen sich Elektronen in einem Atom bewegen können. Als ein von überraschenden Forschungsergebnissen begeisterter Mensch erkannte er darüber hinaus die überzeugende Gültigkeit eines individuellen Experiments und damit die Existenz eines Kerns. Zudem fügte er in die systematische Ordnung der Wissenschaft ein irrationales und völlig unverstandenes Element – das Quantum der Wirkung – ein, um mit seiner Hilfe die in ihrer mathematischen Form extrem vernünftig wirkende und zugleich
erstaunlich bleibende Balmer-Serie und damit das atomare Verhalten überhaupt zu erklären.
Der Mut, das Einzelne mit dem Universellen, das Kreative mit dem Sorgfältigen, das längst Abgeleitete mit dem glücklich Vorgefundenen und das Sprunghafte mit dem Konstanten – kurzum: das Aufgeklärte mit dem Romantischen – zu verbinden, wurde nun unmittelbar belohnt. Die Einführung des unbegreiflichen Quantums lieferte Bohr eine Möglichkeit, die Stabilität der Atome – und damit der Materie überhaupt – zu erklären. Zwar verlangt die Physik, dass beschleunigte Ladungen in elektrischen Feldern Energie abstrahlen, aber dieser Verlust geht nur nach den Vorgaben der Rationalität stetig vor sich, und genau an dieser Stelle mischt sich die irrationale Existenz des Quantums ein und verhindert den Kollaps der Form. Ein Elektron kann nur dann seine Bahn aufgeben und ändern, wenn es das von Planck eingeführte »Päckchen« verliert – und wie soll es dazu kommen, wenn das Atom in Ruhe gelassen wird und es sich keiner Störung von außen erwehren muss? Mit anderen Worten: Es ist das verrückte Quantum, das die Welt im Innersten zusammenhält. Bohr verstand damit, was Goethes Faust verstehen wollte. Er verstand dabei aber auch, dass dieses Verstehen von uns Menschen erst verstanden werden muss.
Die Trilogie
Bohr muss seinen Zeitgenossen mit seinen Erklärungen wie ein Zauberer erschienen sein, der etwas Unmögliches wirklich werden
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