Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Zweiter Teil
im Haar umherging und das ganze Haus um fünf Uhr des Morgens zum Kaffee einlud, war gleichsam das Zeichen, daß man
in den nächsten vierzehn Tagen nicht auf viel Schlaf würde rechnen können. Jetzt mußte Weihnachtsbier gebraut und Fische ausgelaugt
und die Weihnachtsbäckerei und das Weihnachtsreinemachen vorgenommen werden.
Sie stand in ihren Erinnerungen mitten zwischen dem Backen, umgeben von Honigkuchen und Pfeffernüssen, als der Kutscher bei
der Einfahrt in die Allee die Pferde anhielt, wie sie ihn gebeten hatte. Sie fuhr wie aus einem Traum in die Höhe. Ihr war
ganz unheimlich zumute,wie sie am späten Abend ganz allein dasaß; eben hatte sie sich noch von allen ihren Lieben umgeben geglaubt. Als sie aus
dem Wagen stieg und die Allee hinaufging, um unbemerkt in ihr altes Heim zu gelangen, empfand sie so bitter den Unterschied
zwischen ehedem und jetzt, daß sie die größte Lust hatte, wieder umzukehren. »Was kann es nützen, daß ich hierher komme? Es
kann hier ja doch nicht so sein wie in alten Zeiten,« dachte sie.
Aber da sie nun soweit gekommen war, meinte sie, den Hof müsse sie sich doch einmal ansehen, und sie ging weiter, obwohl ihr
mit jedem Schritt schwerer ums Herz wurde.
Sie hatte gehört, der Hof solle sehr verfallen und verändert sein, und das war er auch wirklich. Aber jetzt am Abend konnte
sie das nicht sehen. Sie fand im Gegenteil, daß alles noch so war wie einst. Hier lag der Teich, der in ihrer Kindheit voller
Karaudschen gewesen war, die niemand fischen durfte, weil ihr Vater wollte, daß die Karaudschen hier in Frieden leben sollten.
Da war der Seitenflügel mit der Gesindestube und der Vorratskammer und der Stall mit der Vesperglocke auf dem einen Flügel
und der Windfahne auf dem anderen. Und der Hofplatz vor dem Wohnhause war noch immer ein eingeschlossener Raum ohne Aussicht
nach irgendeiner Seite, ganz wie zu ihres Vaters Zeiten, denn er konnte es nicht übers Herz bringen, auch nur einen Busch
weghauen zu lassen.
Sie war im Schatten unter dem großen Ahorn an der Einfahrt zu dem Hofe stehen geblieben und nun sah sie sich um. Und wie sie
dastand, geschah das Merkwürdige, daß eine Schar Tauben geflogen kam und sich neben ihr niederließ.
Sie konnte kaum glauben, daß es wirkliche Vögel waren, denn Tauben pflegen nie nach Sonnenuntergang auszufliegen. Der helle
Mondschein mußte sie wohl geweckt haben. Sie hatten offenbar geglaubt, daß es schon Tag sei und waren aus dem Taubenschlag
herausgeflogen, aber dann waren sie verwirrt geworden und hatten sich nicht wieder heimfinden können. Als sie nun einen Menschen
erblickten, flogen sie zu ihm hin, als wollten sie ihn um Hilfe bitten.
Zu Lebzeiten ihrer Eltern waren immer eine Menge Tauben auf dem Hof gewesen, denn die Tauben hatten auch zu den Tieren gehört,
die ihr Vater unter seinen besonderen Schutz genommen hatte. Wenn nur die Rede davon war, eine Taube zu schlachten, wurde
er schlechter Laune. Sie freute sich herzlich darüber, daß die schönen Vögel kamen und sie in der alten Heimat begrüßten.
Wer weiß, vielleicht waren die Tauben zur Nachtzeit ausgeflogen, um ihr zu zeigen, daß sie die gute Heimstätte nicht vergessen
hatten, die sie einst hier gehabt.
Oder hatte vielleicht der Vater seine Vögel mit einem Gruß zu ihr geschickt, damit sie sich nicht so ungemütlich und verlassen
fühlen sollte, wenn sie in ihr ehemaliges Heim kam?
Während sie hierüber nachdachte, wurde die Sehnsucht nach alten Zeiten so stark in ihr, daß ihr Tränen in die Augen traten.
Es war ein gutes Leben gewesen, das sie auf dem Hofe geführt hatten. Sie hatten Arbeitswochen gehabt, aber auch Festzeiten,
sie hatten den Tag hindurch viel zu tun gehabt, aber des Abends hatten sie um die Lampe versammelt gesessen und Tegner und
Runeberg,Frau Lenngren und Frederika Bremer gelesen. Sie hatten Korn gebaut, aber auch Rosen und Jasmin gepflanzt; sie hatten Flachs
gesponnen, aber beim Spinnen hatten sie Volkslieder gesungen. Sie hatten sich mit Weltgeschichte und Grammatik abgequält,
aber sie hatten auch Komödie gespielt und Verse gedichtet; sie hatten am Feuerherd gestanden und Essen gekocht, aber sie hatten
auch Klavier und Flöte und Gitarre und Violine spielen gelernt. Sie hatten in einem Garten Kohl und Rüben und Erbsen und Bohnen
gepflanzt, aber sie hatten auch noch einen anderen Garten gehabt, der voller Äpfel und Birnen und allen möglichen Beeren gewesen
war. Sie
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