Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Zweiter Teil
gefällig ist.«
Im selben Augenblick sah der Student den, an den er eben dachte, auf sich zukommen. Er wollte ihm nicht erzählen, daß die
Handschrift verloren war, ehe er den Versuch gemacht hatte, sie wieder zu erlangen, deswegen machte er Miene, an ihm vorüberzugehen,
ohne etwas zu sagen. Aber der andere ging da so bekümmert und unruhig und dachte an nichts weiter, als was der Student über
sein Buch sagen werde, und als er ihn mit einem unfreundlichen Nicken vorübereilen sah, wurde er grenzenlos bange. Er packte
den Studenten beim Arm und fragte, ob er schon ein wenig in dem Buch gelesen habe. »Ich bin zum Tentamen gewesen,« sagte der
Student und wollte schnell weitergehen. Aber der andere glaubte, daß er ihn meiden wolle, um ihm nicht sagen zu müssen, daß
ihm das Buch nicht gefalle. Er hatte ein Gefühl, als wenn ihm das Herz brechen solle bei dem Gedanken, daß das Werk, an dem
er fünf lange Jahre gearbeitet hatte, nichts taugte, und in seinem großen Schmerz sagte er zu dem Studenten: »Vergiß nicht,
was ich dir gesagt habe! Wenn das Buch nichts taugt, will ich es nicht mehr sehen. Lies es so schnell du kannst, und sage
mir, was du darüber denkst. Taugt es aber nicht, so kannst du es gern verbrennen. Dann will ich es nicht mehr sehen.«
Er ging schnell seiner Wege. Der Student sah ihmnach, als wolle er ihn zurückrufen, besann sich aber und ging nach Hause.
Dort beeilte er sich, seine Werktagskleider anzuziehen und lief dann hinaus, um nach der Handschrift zu suchen. Er suchte
in den Straßen, auf den Plätzen und in den Anlagen. Er ging in die Höfe, ja, er wanderte sogar ganz aufs Land hinaus, aber
er fand nicht ein einziges Blatt.
Als er ein paar Stunden herumgelaufen war, wurde er so hungrig, daß er Verlangen nach Mittagessen empfand. Aber da, wo er
zu Mittag zu essen pflegte, traf er den alten Studenten wieder, der ihm gleich entgegenkam, um etwas über das Buch zu hören.
»Ich komme heute abend zu dir, um mit dir zu reden,« sagte der Student ziemlich abweisend. Er wollte nicht eingestehen, daß
die Arbeit weg war, ehe er ganz sicher war, daß sie nicht wieder zu finden sei. Der andere wurde ganz blaß. »Vergiß nur ja
nicht, daß du es vernichten sollst, wenn es nicht taugt,« sagte er und ging seiner Wege und war nun ganz sicher, daß das Buch
dem Studenten nicht gefallen habe.
Der Student eilte wieder in die Stadt hinaus und suchte unermüdlich, bis es dunkel wurde, ohne aber das geringste zu finden.
Auf dem Heimwege begegnete er ein paar Kameraden: »Wo hast du dich herumgetrieben, da du nicht zum Frühlingsfest gekommen
bist?« – »Ach, ist heute Frühlingsfest gewesen?« sagte der Student. »Das hatte ich ganz vergessen.«
Während er dastand und mit den Kameraden sprach, kam ein junges Mädchen, das er gern hatte, vorüber. Sie sah ihn nicht an,
sondern sprach mit einem anderenStudenten, dem sie unendlich freundlich zulächelte. Da entsann sich der Student, daß er sie gebeten hatte, zum Frühlingsfest
zu kommen, damit er sie dort treffen könne, und nun war er selber nicht gekommen. Was mußte sie doch von ihm denken!
Er fühlte einen Stich in seinem Herzen und wollte ihr nacheilen, aber da sagte der eine von seinen Freunden: »Mit Steenberg,
dem ewigen Studenten, steht es offenbar sehr schlecht. Er ist heute abend krank geworden.« – »Es ist doch wohl nichts Gefährliches?«
fragte der Student schnell. – »Es ist etwas mit dem Herzen. Es war ein schlimmer Anfall, den er hatte, und der kann sich jeden
Augenblick wiederholen. Der Doktor meint, daß er irgendeinen Kummer hat, der ihn bedrückt. Es kann nur besser werden, wenn
dieser Kummer von ihm genommen wird.«
Kurz darauf trat der Student in das Zimmer des ewigen Studenten. Er lag bleich und matt in seinem Bett und war noch kaum wieder
bei Besinnung nach dem schlimmen Anfall.
»Ich komme, um mit dir über dein Buch zu reden,« sagte der Student. »Es ist eine vorzügliche Arbeit, kann ich dir sagen. Ich
habe selten etwas so Gutes gelesen,«
Der ewige Student richtete sich im Bett auf und starrte den Studenten an. »Warum warst du denn heute nachmittag so sonderbar?«
»Ich war schlechter Laune, weil ich durchs Tentamen gefallen bin. Ich ahnte nicht, daß du dir soviel aus meiner Meinung machst.
Ich habe soviel Freude von deinem Buch gehabt.«
Der Kranke sah ihn forschend an, und es wurde ihm mehr und mehr klar, daß ihm der Student etwas verbergen wollte.
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