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Niemalsland

Titel: Niemalsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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was ich …«
    In diesem Moment gab der Stoff von Mr. Vandemars dunklem Anzug nach. Mr. Croup stürzte schreiend ins Leere, einen langen Streifen schwarzen Stoffs zwischen den Fingern. Mr. Vandemar schaute der armrudernden Gestalt Mr. Croups nach. Auch er sah zu Door hinüber, doch sein Blick enthielt keine Drohung. Er zuckte mit den Schultern, so gut man das eben kann, wenn man sich gleichzeitig auf Leben und Tod an einem Tischbein festhält, und dann sagte er milde: »Nacht«, und ließ das Tischbein los.
    Schweigend tauchte er durch die Tür ins Licht, im Fallen schrumpfend, der winzigen Gestalt Mr. Croups hinterher. Bald waren sie nur noch ein schwarzer Punkt in einem Meer schäumenden Lichts, und dann war auch der fort.
    Es machte irgendwie Sinn, dachte Richard: Schließlich waren sie ein Team.
    Das Atmen wurde schwerer. Richard fühlte sich schwindelig und benommen.
    Der Tisch in der Tür zersplitterte und wurde fortgesogen.
    Eine von Richards Handschellen sprang auf, und sein rechter Arm riß sich frei. Er griff nach der Kette, die die linke Hand hielt, und umklammerte sie, so fest er konnte, dankbar, daß der gebrochene Finger sich an der Hand befand, die noch gefesselt war. Dennoch schossen rote und blaue Blitze des Schmerzes seinen linken Arm hinauf. Er hörte sich schreien. Er konnte nicht atmen. Weiße Lichtkleckse explodierten hinter seinen Augen.
    Er spürte, wie die Kette langsam nachgab …
    Dann hörte er nur noch das Geräusch der zuschlagenden schwarzen Tür.
    Richard knallte heftig gegen den Pfeiler und sackte auf dem Boden zusammen. In der Halle herrschte Stille; Stille und völlige Dunkelheit, in der Großen Halle unter der Erde.
    »Wo haben Sie sie denn hingeschickt?« Das war die Stimme des Marquis.
    Und dann hörte Richard eine Mädchenstimme. Er wußte, sie mußte Door gehören, doch sie klang so jung wie die Stimme eines kleinen Kinds beim Schlafengehen. »Weiß ich nicht. Ganz weit weg. Ich … bin jetzt sehr müde. Ich …«
    »Door«, sagte der Marquis. »Reißen Sie sich zusammen. « Es war gut, daß er das sagte, dachte Richard. Jemand mußte es tun. Und Richard wußte nicht mehr, wie man sprach.
    Es klickte in der Dunkelheit: das Geräusch einer sich öffnenden Handschelle, gefolgt von dem Geräusch von Ketten, die gegen einen Metallpfeiler fielen. Dann das Geräusch eines Streichholzes, das angerissen wurde. Eine Kerze wurde angezündet: Sie brannte schwach und flackerte in der dünnen Luft.
    Gibt Kerzenschein uns Licht, dachte Richard, und er wußte nicht mehr, warum.
    Door ging auf wackligen Beinen zum Marquis, die Kerze in der Hand. Sie streckte eine Hand aus, berührte seine Ketten, und seine Handschellen öffneten sich klickend. Er rieb sich die Handgelenke.
    Dann ging sie zu Richard hinüber und berührte seine verbliebene noch geschlossene Handschelle. Sie öffnete sich. Door seufzte und setzte sich neben ihn. Er streckte den Arm aus, schlang ihn um ihren Kopf und drückte sie an sich. Er wiegte sie langsam vor und zurück und summte ein wortloses Wiegenlied.
    Es war kalt, kalt, dort in dem leeren Saal des Engels; doch bald streckte die Wärme der Bewußtlosigkeit ihre Arme aus und hüllte sie beide ein.
    Der Marquis de Carabas beobachtete die schlafenden Kinder. Der Gedanke an Schlaf – selbst nur für kurze Zeit in einen Zustand zurückzukehren, der dem Tod so entsetzlich nah war – machte ihm mehr angst, als er je für möglich gehalten hätte. Doch schließlich legte er den Kopf auf den Arm und schloß die Augen.
    Und dann war da niemand mehr.

Kapitel Achtzehn
     
    Lady Serpentine, die nach Olympia die zweitälteste der Seven Sisters war, ging durch das Labyrinth, und ihre weißen Stiefel glucksten im Schlamm. So weit hatte sie sich seit über hundert Jahren nicht mehr von zu Hause entfernt. Ihr Majordomus mit der Wespentaille, von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gekleidet, ging ihr voraus, eine große Kutschlaterne in der Hand. Zwei ähnlich angezogene andere Frauen folgten ihr in respektvollem Abstand.
    Die zerfetzte Spitzenschleppe von Serpentines Kleid schleifte im Dreck, doch sie achtete nicht darauf. Sie sah vor ihnen etwas im Licht der Laterne glitzern. Und daneben einen unförmigen Umriß.
    »Da ist es«, sagte sie.
    Die zwei Frauen, die hinter ihr gegangen waren, eilten durch den Morast voraus, und als die Frau mit der Lampe sich näherte, verwandelten sich die Umrisse in Gegenstände. Das Licht hatte sich in einem langen Bronzespeer gespiegelt. Hunters

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