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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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sagen hatte, als Mike hereinkam.
    »Ich brauche dich im Oktober wieder in Nicaragua«, sagte er zu mir.

    »Ist gut.«
    Mike sah Henry an, als hätte er ihn jetzt erst wahrgenommen. »Wie lange ist es her, seit du in Mittelamerika warst?«
    »Ein Weilchen.«
    »Du solltest auch fahren. Sieh es als Willkommensgeschenk.«
    Der Satz hing im Raum. Mike war nie besonders subtil gewesen. Bei unserer Trennung damals hatte er zu Henry gesagt, er mache einen Fehler, den er ewig bereuen werde. In den ersten Monaten, nachdem Henry gegangen war, hatte Mike mehrmals seinen Arm um meine Schultern gelegt und gesagt: »Der kommt zurück.«
    »Vielleicht fahre ich wirklich«, sagte Henry jetzt. Obwohl ich so tat, als konzentrierte ich mich auf die Gläser vor mir, wusste ich genau, dass Henry mich ansah und auf irgendein Signal wartete.

34
    DAS GROSSE SCHILD vor dem Hof hatte die Form eines Bauernhauses, rote Schreibschrift auf weißem Grund verhieß: Boudreaux Family Dairy . Daneben ein provisorisch befestigtes Stück Holz, auf dem von Hand geschrieben stand:
    Willkommen zum Tag der offenen Tür
Pflücken Sie sich Ihren eigenen Kürbis
Graben Sie nach Kartoffeln
Lernen Sie Tabitha kennen
Melken Sie eine Kuh!
Gekühlte Getränke
Frischer Käse zum Verkauf
    Ich bog in den Feldweg ein. Zu beiden Seiten der Zufahrt lagen Weiden, leuchtend grün vor den braunen Hügeln. Ein achtlos abgestellter altertümlicher Pflug ragte aus dem hohen Gras. Eine Krähe hockte darauf und putzte sich in der Sonne das Gefieder. Ein uralt aussehendes Pferd, das am Zaun stand, hob träge den Kopf, als ich vorbeifuhr. Ich dachte an den Sommernachmittag unmittelbar bevor Lila Dorothy verkauft hatte, als wir zusammen zum Stall gefahren waren und Lila sie für mich gesattelt hatte. »Tritt ihr ordentlich in die Flanken«, hatte Lila in ihrer typisch sachlichen Art gesagt. »Sie muss
wissen, wer der Chef ist.« Doch als ich genau das getan hatte, war Dorothy in einen wilden Galopp gefallen und quer über die Felder gelaufen, und ich hatte mich verzweifelt an ihrer Mähne festgeklammert.
    Lilas Pferdephase schien mir eine Ewigkeit zurückzuliegen, beinahe wie etwas, das ich nur geträumt hatte. Doch als ich nun zum Gesang von Cat Stevens im Radio über den staubigen Weg fuhr, durch den von den Hügeln herunterkullernden Nebel, war es unmöglich, nicht an Lila in ihrer Reiterhose, dem schwarzen Sweatshirt und den schwarzen Stiefeln zu denken, mit dem im Wind flatternden Pferdeschwanz. Ich konnte einfach nicht anders, als darüber nachzudenken, wie sich die Dinge wohl entwickelt hätten, wenn sie das Reiten nicht aufgegeben hätte. Wenn sie, anstatt sich voll und ganz der Mathematik zu verschreiben, dem Rat meiner Mutter gefolgt wäre und sich dieses kleine Hobby nebenbei bewahrt hätte, dieses Vergnügen, das nichts mit ihrem akademischen Leben zu tun hatte. Mehr als einmal hatte ich mich gefragt, ob ihr Ehrgeiz vielleicht ihr Verderben gewesen war. Wäre sie nur nicht so gut in dem gewesen, was sie tat, hätte sie nur nicht so ein außergewöhnliches Vorstellungsvermögen besessen, dann hätte das den Verlauf ihrer Tage sicherlich wesentlich verändert. Wenn es um die bedeutenden Ereignisse geht, die unser Leben prägen, dann ist und bleibt doch das Timing alles. Schon die geringste Verschiebung in ihrem Tagesablauf hätte womöglich verhindert, dass Lila ihrem Mörder in die Hände fiel. Und anstatt meinen Samstagvormittag mit der Besichtigung eines Bauernhofs auf der Suche nach einer schwer fassbaren Wahrheit zu verbringen, würde ich vielleicht quer durchs Land jetten, um sie in Princeton oder Columbia zu besuchen. Möglicherweise gäbe es eine Nichte oder einen Neffen oder beides, denen ich Geschenke mitbrächte.
Wer weiß, vielleicht hätte ich sogar ein eigenes Kind, einen Mann, das ganze hübsche Idyll.
    Ich versuchte mir vorzustellen, wie Lila heute aussähe, mit zweiundvierzig; doch das Einzige, was ich vor mir sah, war das verstörende Bild einer dieser Phantomskizzen, die den mutmaßlichen Alterungsprozess einer Person darstellen, dunkle Bleistiftstriche, die Falten um den Mund und auf der Stirn darstellen sollen. Schon immer hatte ich mich gefragt, nach welchen Kriterien die Zeichner die Frisuren für diese Skizzen auswählten, einen Pony hinzufügen oder entfernen.
    Ich sah in den Rückspiegel und versuchte, Lilas leicht schiefes Lächeln aufzusetzen, aktivierte das Grübchen in der rechten Wange und zog die rechte Augenbraue eine Idee hoch.

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