Niemand, Den Du Kennst
Irgendwann kamen sie zurück mit dem Vermerk ›Empfänger unbekannt verzogen‹.«
»Wollen Sie nicht nach ihm suchen?«, fragte ich.
»Jeden einzelnen Tag. Aber inzwischen denke ich, wenn er mich finden wollte, hätte er das getan.«
Er hob sein Buch und seine Kappe auf. »Es ist spät. Es war freundlich von Ihnen, mir zuzuhören.«
»Warten Sie«, sagte ich wieder, aber mir fiel nichts mehr ein, womit ich ihn aufhalten konnte. Ich wollte noch mehr über meine Schwester hören, in Erinnerungen schwelgen mit diesem Mann, der eine gänzlich andere Seite an ihr gekannt hatte. Wie schnell doch im Laufe eines einzigen Tages das Undenkbare zur Realität werden kann.
Er stand schon an der Tür, die Hand auf der Klinke, als ihm etwas einzufallen schien. Er ließ die Hand wieder sinken und drehte sich zu mir um. »Hat Lila Ihnen je von Maria Agnesi erzählt?«, fragte er.
»Ja, neben den anderen - Sophie Germain, Olive Hazlett, Charlotte Angas Scott, Hypatia.«
»Dann erinnern Sie sich vielleicht noch daran, wie Agnesi mathematische Probleme löste?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Laut ihren Biografen war Agnesi Schlafwandlerin. Wenn sie sich lange mit einem unlösbaren Problem abgemüht hatte, ging sie entmutigt ins Bett. Der Legende nach wachte sie dann am nächsten Morgen auf und fand die Lösung auf ihrem Schreibtisch vor. Aber ich habe immer vermutet, dass das nur ein hübsches Märchen ist. Ich glaube, es war einfach so, dass am nächsten Morgen ein neuer Tag angebrochen war und sie die Dinge anders wahrnehmen konnte.«
Er öffnete die Tür und verschwand im dunklen Flur. Noch mehrere Minuten blieb ich dort stehen. Es schien mir fast, als wäre diese ganze Nacht nur ein Produkt meiner Fantasie. Schließlich ging ich zum Fenster und schob den Vorhang beiseite. In der Ferne konnte ich seine dunkle Silhouette langsam durch den Regen die Straße hinunterlaufen sehen.
10
IN JENER NACHT, nachdem McConnell gegangen war, fiel mir ein Gespräch wieder ein, das Lila und ich nur Wochen vor ihrem Tod geführt hatten, an dem Tag, als sie das aufreizende blaue Kleid anprobierte und mir von ihren Plänen, die Goldbachsche Vermutung zu beweisen, erzählte.
Jede gerade Zahl größer als 2 kann als Summe zweier Primzahlen geschrieben werden.
Lila hatte mir die Vermutung in möglichst einfachen Worten erklärt. Das gehörte zu ihren unablässigen Bemühungen, mich auf einem Gebiet weiterzubilden, auf dem ich hoffnungslos verloren war. Sie war sich sicher, dass sie mich, wenn sie mich nur lange genug bearbeiten würde, von der den Zahlen innewohnenden Schönheit überzeugen könnte. Ich ließ ihr vor allem deshalb ihren Willen, weil sie es tatsächlich wie durch ein Wunder schaffte, den Stoff interessant werden zu lassen. Was keinem einzigen meiner Lehrer je gelungen war. Sie liebte es, mir von den Menschen hinter den Zahlen zu erzählen - von Poincaré und Agnesi, Fermat und Ramanujan, Euler, Leibniz und Pascal. Während das Thema selbst dicht und größtenteils undurchdringlich für mich war, fand ich die menschliche Seite der Mathematik und die ganzen Geschichten drum herum faszinierend.
Was die Goldbachsche Vermutung unter anderem so einzigartig
macht, ist, dass trotz der bekannten Schwierigkeit, einen Beweis dafür zu finden, ihre Grundelemente eigentlich ziemlich einfach sind. Eine Primzahl ist eine natürliche Zahl, deren einzige Teiler sie selbst und 1 sind. Wenn man eine Primzahl durch irgendeine andere Zahl teilt, erhält man einen Bruch. Zwar wird allgemein davon ausgegangen, dass die Goldbachsche Vermutung stimmt, doch in den zweieinhalb Jahrhunderten, seit sie erstmals geäußert wurde, konnte niemand sie beweisen. Man kann sagen, dass 4 die Summe der Primzahlen 2 und 2 ist, dass 6 die Summe der Primzahlen 3 und 3 ist oder dass 8 die Summe der Primzahlen 5 und 3 ist. Diese Berechnungen kann man monate-, jahre-, sogar jahrzehntelang anstellen und dabei herausbekommen, dass jede positive ganze Zahl, die man ausprobiert, auf die Vermutung passt. Aber niemand hat bisher einen Weg gefunden, zu beweisen, dass keine natürliche Zahl existiert, die nicht die Summe von zwei Primzahlen darstellt. Denn die Menge der geraden Zahlen ist unendlich, ein fallbezogener Beweis unmöglich. Nötig ist ein allgemeiner Beweis, ein Beleg, der jede mögliche gerade Zahl bis in die Unendlichkeit abdeckt. Daher blieb diese einfache, elegante und dem Anschein nach wahre Aussage - jede gerade Zahl größer als 2 kann als Summe zweier
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