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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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der ihr das Leben nahm. Ich war nie abergläubisch gewesen, aber ich fühlte mich langsam, als stünde ich unter dem Einfluss eines seltsamen Zaubers. Vielleicht lag es an dem ureigenen Wesen dieses Dorfes?
    »Thorpes Buch«, sagte ich. »Ich habe es zweimal gelesen, von der ersten bis zur letzten Zeile.«
    »Wirklich?« McConnell sah mich mit einer verstörenden Eindringlichkeit an. »Dann wissen Sie ja, dass Thorpe nichts bewiesen hat. Seine Anschuldigungen gegen mich waren nichts als reine Vermutung. Er konnte nicht einen einzigen greifbaren Beweis liefern, der mich mit dem Verbrechen in Verbindung brachte. Nicht einen einzigen Augenzeugen. Als ich das Buch las, war ich außer mir vor Wut. Ich konnte immer nur daran denken, wie beleidigend Lila es gefunden hätte - den Mangel an Präzision, die logischen Sprünge, zum Teil sogar innerhalb eines Satzes.«
    »Sie waren der wahrscheinlichste Täter.«
    »Mit der Wahrscheinlichkeit verhält es sich seltsam«, sagte McConnell. »Aus evolutionärer Sicht wäre es vernünftig, wenn ein Instinkt für Wahrscheinlichkeit in unsere Gehirne eingebaut wäre, um Gefahr zu vermeiden. Doch in Wirklichkeit sind die meisten Menschen furchtbar unbeholfen, wenn es um die Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten geht. Unsere Begegnung hier, zum Beispiel, könnte einem auf den ersten Blick völlig unwahrscheinlich vorkommen. Doch Sie reisen viel, ich lebe im Exil, und Diriomo liegt gar nicht so weit fernab der ausgetretenen Pfade. Im Allgemeinen wollen die Menschen gern glauben, dass die Welt sicher ist. Angesichts willkürlicher Gewalttaten fühlen sie sich nicht sicher. Daher ist der erste Impuls wenn ein Mensch ermordet wird, jemanden
aus dem näheren Umfeld des Opfers zu verdächtigen. Trotz der Tatsache, dass dem Diktat der Wahrscheinlichkeit zufolge jeder von uns regelmäßig in engeren Kontakt mit gefährlichen Individuen kommt.«
    »Was ist mit dem mathematischen Problem?«, fragte ich. »Goldbach. Was sagen Sie zu Thorpes Vermutung, dass Sie und Lila kurz vor der Lösung des Problems standen und Sie den Ruhm nicht teilen wollten?«
    »Kurz vor dem Beweis standen«, verbesserte er mich. »Aber das ist lächerlich. Wir waren noch nicht ansatzweise so weit. Thorpe wusste nicht, wovon er sprach. Allerdings habe ich immer noch nicht aufgegeben. Nachdem ich hierhergezogen war, verbrachte ich den Großteil meiner freien Stunden mit der Arbeit daran. Es war tröstlich, ein Zeitvertreib. Vor allem, das muss ich zugeben, erinnerte mich die Goldbachsche Vermutung an Lila. Es war ein Pakt, den wir geschlossen hatten: Wir würden sie ein für alle Mal beweisen. Nach ihrem Tod fühlte ich mich so schuldig. Was auch immer ihr zugestoßen ist - ich war nicht für sie da. Ich hätte sie an dem Abend nach dem Essen heimfahren sollen. Habe ich aber nicht, weil es schon so spät war und ich nach Hause zu meinem Sohn musste. Er schlief nie ein, bevor ich ihn nicht zugedeckt hatte. Also brachte ich Lila zu Fuß zur Haltestelle. Jeden Tag lebe ich mit der Schuld, dass ich sie im Stich gelassen habe.«
    Der Regen prasselte heftig herunter, peitschte die Bäume neben dem Haus und verlieh allem einen erdigen und grünen Geruch. Weil im Zimmer keine Klimaanlage war, hatte ich das Fenster offen gelassen. Ein Fliegengitter hielt den Regen weitgehend ab, doch einige Tropfen spritzten auf den Boden unterhalb des Fensters.
    McConnell beugte sich vor. Sein Stuhl schabte über den Boden, und sein Knie berührte meins. Instinktiv tastete ich in
meiner Tasche nach dem Probestecher. Sein Blick folgte meiner Hand. »Haben Sie bitte keine Angst vor mir«, sagte er. »Sie haben keinen Grund, Angst zu haben. Ich habe Ihre Schwester geliebt, Ellie. Ich hätte ihr nie, niemals wehgetan.«
    Ich wollte ihm so gerne glauben. Um Lilas willen wollte ich, dass er die Wahrheit sagte.
    Er stand auf. In seinem Gesicht entdeckte ich Resignation. Er muss in diesem Moment geglaubt haben, dass er mich nie überzeugen würde. »Warten Sie«, sagte ich. »Eine Frage habe ich noch.«
    »Ja?«
    »Ihr Sohn Thomas.«
    »Er wird dieses Jahr dreiundzwanzig. Ein paar Monate nach meiner Ankunft in Nicaragua rief ich meine Schwiegereltern an. Margarets Vater erzählte mir, dass sie wieder geheiratet habe und in einen anderen Staat gezogen sei. Er wollte mir ihren neuen Nachnamen nicht sagen und auch nicht, wo sie jetzt wohnen. Bis vor drei Jahren habe ich Geburtstags- und Weihnachtskarten an die Adresse meiner Schwiegereltern geschickt.

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