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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Schließlich wurde der Highway leerer, und die Bebauung wich sanften Hügeln mit vereinzelten Rindern und Affenbrotbäumen. Lila bog in einen Feldweg ein, und im Schritttempo kämpften wir uns über die Unebenheiten und Schlaglöcher, bis wir eine lange Kiesauffahrt erreichten. Am Ende lag ein großes weißes Bauernhaus, die Art von Haus, in der ich unheimlich gern gewohnt hätte, mit einer breiten Veranda und Giebelfenstern und ein paar seitlichen Anbauten, die aussahen, als wären sie aufs Geratewohl angenagelt worden. Links vom Haus befand sich ein Kartoffelacker - lange Reihen aufgehäufter trockener brauner Erde, aus denen hier und da ein Fitzelchen Grün spross.
    Ich folgte Lila zu der eingezäunten Weide. Weit entfernt konnten wir Dorothy sehen, die unter einem Josuabaum graste. Als Lila pfiff, spitzte das Tier die Ohren und kam angaloppiert. Lila rieb Dorothys Maul und flüsterte ihr etwas ins Ohr, während die Stute einfach nur dastand und ruhig in die Sonne blinzelte. Ich fragte mich, ob Lila mit Dorothy so sprach, wie sie es mit mir nie wirklich tat, ob sie der schweigsamen Kreatur ihre tiefsten Geheimnisse enthüllte. Einige Minuten später kam ein Auto über die Auffahrt. Es waren ein Vater und seine zehnjährige Tochter, die in der Stadt lebten.
Lila half dem kleinen Mädchen auf Dorothys ungesattelten Rücken.
    »Sie ist lebhaft«, erklärte Lila dem Mädchen. »Wenn du streng mit ihr bist, dann wird sie dich respektieren. Sie mag keine Karotten, aber sie ist total verrückt nach Äpfeln und Brombeeren. Außerdem ist sie ein großer Freund von Cheerios. Sie mag es, wenn man ihr ins Ohr singt. Wenn sie gereizt ist, kannst du sie normalerweise mit einem Simon-and-Garfunkel-Song wieder besänftigen.«
    Ich erkannte den Blick in den Augen des kleinen Mädchens, es war der gleiche Blick, den Lila vor vielen Jahren bekommen hatte, als sie Spice sah. Der Mann sagte, er brächte am nächsten Tag einen Scheck bei uns zu Hause vorbei.
    Nachdem die beiden wieder gefahren waren, kam ein Typ aus dem Bauernhaus auf uns zu. Er war groß und gut aussehend und ziemlich großspurig, vermutlich Ende zwanzig oder Anfang dreißig. Er wirkte ein wenig müde und ungewaschen, als hätte er die ganze Nacht durchgefeiert.
    »Hallo, William«, sagte Lila.
    »Hey, Lila.«
    »Das ist meine Schwester Ellie.«
    William schüttelte mir die Hand, und sein Griff war so fest, dass es wehtat.
    »Wir sind uns schon mal begegnet«, erinnerte ich ihn. Er sah mich verwirrt an. »Als das Auto vor einer Weile mal nicht mehr anspringen wollte. Du hast uns Starthilfe gegeben.«
    »Ach ja, stimmt«, sagte Lila. »Hatte ich ganz vergessen.«
    »Schön, dich zu sehen«, sagte er, aber ich merkte ihm an, dass er sich nicht an mich erinnerte. Er kaute auf einem Minzzweig. Dann wandte er sich an Lila. »Hast du sie schon verkauft?«

    »Ich glaube schon. Das Mädchen, das gerade hier war, hat sich verliebt.«
    Als William außer Hörweite war, sagte ich: »Der ist süß.«
    »Findest du?« Lila betrachtete seinen Rücken, als wäre ihr dieser Gedanke noch nie gekommen. »Ich weiß nicht so recht, aber er kann gut mit Dorothy umgehen. Ich wünschte, er würde sie kaufen. Wenigstens wüsste ich dann, dass sie in guten Händen ist.«
    An jenem Nachmittag ritt Lila Dorothy ein letztes Mal. Danach wusch sie sie ab, machte mit ihren seifigen Händen kreisende Bewegungen auf Dorothys dickem Fell. Sie legte ihren Mund nah an Dorothys Ohr und sagte leise: »Braves Mädchen.« Schließlich gab sie ihr einen Apfel und umschlang ihren Hals. Ich überlegte, ob Dorothy wohl bewusst war, dass Lila sich von ihr verabschiedete.
    Soweit ich weiß, sah Lila Dorothy nie wieder. Sie sprach nur selten von ihr. Ich fragte mich, ob sie wohl bei mir genauso wäre. Falls ich bei einem Autounfall ums Leben käme oder mir beim Sprung in einen Swimmingpool das Genick bräche und den Rest meines Lebens im Koma läge, würde sie sich dann genauso leicht auf meine Abwesenheit einstellen wie auf Dorothys?
    Von da an , schrieb Thorpe am Ende des Kapitels, gab es keinerlei Ablenkungen mehr. Lila hatte nur eine wahre Leidenschaft, eine Liebe: die Mathematik.
    Als ich an diesem Abend wieder zu Hause war, blätterte ich zurück zum Anfang. Es war merkwürdig, das Buch nach so vielen Jahren noch einmal zu lesen, merkwürdig, Lila auf den Seiten vor mir zu sehen, lebendig und real, beim Reiten oder Nähen oder am Küchentisch sitzend, den Stift in der Hand, und über einer mathematischen

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