Niemand, Den Du Kennst
Formel brütend. Es war Lila, wie ich sie gekannt hatte, wie ich sie beschrieben hatte. Bei
allen Freiheiten, die Thorpe sich in Bezug auf das Leben meiner Schwester genommen hatte, konnte man doch nicht abstreiten, dass er ihr eigentliches Wesen eingefangen hatte, ihre Persönlichkeit: wie sie ging, wie sie ihren Kopf beim Sprechen hielt, ihre Ausdrucksweise.
Was jedoch McConnell betraf, lag er völlig falsch. Beim Blick in McConnells Augen , schrieb Thorpe, bekam man den Eindruck, einen Mann ohne normales Gewissen vor sich zu haben, einen Mann, der zu allem fähig ist. In seinen Augen lag eine gewisse Grausamkeit, in seiner Stimme Härte.
Ich wusste, dass das nicht stimmte. Mich hatte die Milde in McConnells Augen verblüfft, die Sanftheit seiner Stimme. Ich konnte den Mann, dem ich in Diriomo begegnet war, nicht mit der Figur in dem Buch in Einklang bringen, konnte das Bild vom herzlosen, berechnenden Mörder, das Thorpe gezeichnet hatte, nicht nachvollziehen.
Trotzdem stand ich nach dem Lesen des Buchs ohne Antworten da, ohne jeden Hinweis darauf, wer sonst noch verstrickt gewesen sein könnte. Es war, als hätte Thorpe seine gesamte Energie darauf verwendet, Beweise gegen McConnell zu liefern, während er jeden anderen rasch und kategorisch ausschloss. Warum hatte er das getan? Was konnte er dabei gewinnen?
15
ANDREW THORPES WEBSITE war ein Multimediaspektakel mit Flash-Grafiken, Hintergrundmusik von einer lokalen Band namens Sugar dePalma, Podcasts und Videos. Er veranstaltete einige Wettbewerbe, darunter einen mit dem Titel »Wie soll der Schurke heißen?«, bei dem der glückliche Gewinner den Namen einer Figur in Thorpes erstem Roman bestimmen durfte, an dem er gerade arbeitete. Ein anderer Wettbewerb hieß »Rohfassung«, und als Preis war das handschriftliche Originalmanuskript eines von Thorpes Büchern ausgelobt. Da der Thorpe, den ich kannte, niemals auch nur einen Einkaufszettel handschriftlich verfasste, musste er wohl irgendeinen armen Teufel angeworben haben, um seine Word-Datei von Hand abzuschreiben. Am beliebtesten aber schien der Wettbewerb zu sein, bei dem der Gewinner zusammen mit Thorpe das Gefängnis Pelican Bay State Prison besuchen durfte. »Freuen Sie sich auf ein persönliches Gespräch mit Johnny Grimes, dem Protagonisten aus Blut im Silicon Valley - der fesselnden Story über den grausigen Mord an zwei Yahoo-Mitarbeitern«, versprach die Website. Das Buch war erst zwei Monate zuvor erschienen und fand, den Massen an Rezensionen und Leserkommentaren nach zu urteilen, viel Beachtung.
Ich klickte auf die Veranstaltungsseite und entdeckte, dass
das San Francisco Ladies’ Bureau ein literarisches Mittagessen mit Thorpe am kommenden Donnerstag ausrichtete. Im Eintrittspreis von 85 Dollar waren ein leichtes Mittagessen, ein Glas Chardonnay und ein signiertes Exemplar von Blut im Silicon Valley enthalten. Ich rief an und buchte. Die Frau am Telefon war ganz hingerissen. »Perfektes Timing«, zwitscherte sie. »Es sind nur noch wenige Plätze übrig. Haben Sie das Buch schon gelesen?«
Ich bekannte, dass nicht.
»Es ist fantastisch. Sie werden begeistert sein.«
Als ich mir das Datum des literarischen Mittagessens mit roter Tinte im Kalender eintrug, dachte ich zurück an eine eigenartige Nacht, die ich mit Thorpe verbracht hatte, wenige Monate bevor er mir mitteilte, dass er das Buch schrieb. Ich war mittlerweile in höhere Literaturkurse aufgestiegen, aber wir trafen uns noch immer ziemlich häufig auf einen Kaffee oder ein Mittagessen. Eines Nachmittags lud er mich am Telefon ganz ungezwungen zum Abendessen bei sich zu Hause ein. Seiner Formulierung nach ging ich davon aus, dass noch andere Gäste kämen.
Die Wohnung lag im zweiten Stock eines Zwölfparteienhauses ganz oben am Dolores Park. Als Thorpe die Tür aufmachte, sah ich, dass er auf die üblichen Jeans und Turnschuhe verzichtet hatte und stattdessen ein schwarzes Hemd zu Nadelstreifenhose und Lederschuhen trug. Für ihn war das ein seltsamer Aufzug, und er schien sich in den Sachen unbehaglich zu fühlen.
»Riecht gut«, sagte ich.
»Das ist eine Lasagne, Rezept meiner Mutter. Sie muss noch eine halbe Stunde im Ofen bleiben. Möchtest du schon mal ein Glas Wein?«
Ich folgte ihm in die kleine, blitzsaubere Wohnung und stellte überrascht fest, dass wir nur zu zweit waren.
Als die Lasagne aus dem Ofen kam, hatten wir schon die zweite Flasche Wein geöffnet. Ich trank aus Nervosität schneller als üblich, aber er
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