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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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mochte auf der Welt, die Leute wollten immer noch ihren Kaffee.
    Im Verkostungsraum unmittelbar hinter dem Büro standen mehrere Tabletts mit Kaffeeproben zum Rösten und Degustieren bereit. Ich tauchte meine Hand in den Haufen tansanische Peaberry-Bohnen und atmete den leicht modrigen Duft ein. Neben den Peaberrys stand ein äthiopischer Harrar. Ich hatte außerdem einige Bohnen aus Nicaragua dabei, die ich auf Tabletts schüttete und für später etikettierte. Ich wusste schon, dass wir eine große Lieferung bei Jesus bestellen würden, aber Mike verkostete gern jede Probe selbst. Er war ein Perfektionist. Sein Urgroßvater Milos hatte das Geschäft zur Zeit des Goldrauschs gestartet, und heute noch zierte Milos’ Bildnis die Kaffeepäckchen unter dem Familiennamen Stekopolous.
    Ich füllte die Peaberry-Bohnen in eine von drei Metalltrommeln des Probenrösters von Jabez Burns, der über Generationen weitergereicht worden war. In die zweite Trommel tat ich den äthiopischen Harrar. Dann zündete ich den Gasbrenner an und wartete. Nach ein paar Minuten fingen die Bohnen an zu zischen und zu knallen. Der Raum füllte sich mit einem üppigen blumigen Duft. Ich holte die Peaberry-Bohnen zuerst heraus und schaufelte sie auf das Kühlsieb aus Metall. Für den Harrar wollte ich eine etwas dunklere Röstung, also wartete ich, bis die zweite Runde Ploppen zu hören war. Als die Bohnen zu meiner Zufriedenheit geröstet und
die Silberhäutchen entfernt waren, überprüfte ich die Bohnen auf ihre Farbe und mahlte sie grob, bevor ich in jedes der bereitstehenden Gläser ein wenig Kaffee löffelte.
    »Schön, dass du wieder da bist«, begrüßte mich Mike, als er aus seinem Büro kam.
    »Ich freue mich auch.«
    Wir begannen mit der Verkostung. Zwischen dem Schlürfen brachte Mike mich auf den neuesten Stand des Bürotratschs. Während meiner Abwesenheit hatte Jennifer Wilson, eine der Vertreterinnen, ihre Schwangerschaft verkündet, und Gabrielle, die Tochter des Eigentümers einer Konkurrenzfirma, hatte eine Beziehung mit einem unserer Lagerarbeiter begonnen. Debbie Dybsky aus der Buchhaltung ging in den Ruhestand und zog nach Muir Beach. Die Neuigkeiten meiner Kollegen zu hören gab mir ein Gefühl von Heimat. Abgesehen von meiner Mutter waren das die Leute, denen ich auf der Welt am nächsten stand.
    Neben jedem Stuhl stand auch ein großer Messingspucknapf, doch keiner von uns beiden benutzte ihn. Wir schluckten den Kaffee und tranken zwischen den Proben Wasser. Ich hatte Mikes bodenständigen Verkostungsstil übernommen, ohne das ganze Brimborium.
    »Manchen Leuten geht es nur um die Show«, hatte Mike mir gleich zu Anfang erklärt. »Mir geht es um den Kaffee. Deshalb mag ich dich. Du kannst eine besondere Bohne aus kilometerweiter Entfernung riechen.«
    Schon früh hatte ich Mikes Bemühungen als Mentor zu schätzen gelernt, und ich würde ihm ewig dankbar sein für die Chance, die er mir gab. Als ich Ende der Neunziger in der Branche anfing, gab es immer noch Männer, die sich niemals dazu herablassen würden, zusammen mit einer Frau an einem Verkostungstisch zu sitzen. Wie die Küchen der Edelrestaurants,
die Stollen der Bergbauschächte und die prestigeträchtigsten Mathematikinstitute war auch die Kaffeebranche eine Männerwelt. Seltsam, wenn man bedenkt, dass seit Beginn des Kaffeekonsums in den USA vor allem Frauen ihn kauften und auf den Tisch brachten.
    Zu meinem vierunddreißigsten Geburtstag schenkte Henry mir ein seltenes Exemplar von William Harrison Ukers’ All About Coffee , der Bibel der Kaffeebranche, in der Ausgabe von 1922. Die stolzen achthundert Seiten waren voller erlesener Drucke und aufwendiger Illustrationen. Einer meiner Favoriten war eine Werbeanzeige für Arbuckle-Kaffee aus dem Jahr 1872, in der eine ratlos dreinblickende Frau in einer Schürze vor einem rauchenden Herd steht und klagt: »Ach, jetzt habe ich schon wieder den Kaffee verbrannt.« Eine weitere Anzeige unter der Überschrift »Ein Fehler, den viele Frauen machen« drängte Hausfrauen dazu, den fertig gerösteten Kaffee der Arbuckle Brothers zu kaufen, statt ihn selbst zu rösten, mit der falschen Behauptung, dass man »bei jedem Rösten auf vier Pfund Kaffee ein ganzes Pfund verliert«. Die Anzeige war nicht nur beleidigend, sie stimmte auch nicht. Wie so viele Geschichten war auch die des Kaffees mit zahlreichen Halbwahrheiten gespickt. Man brauchte ein kritisches Auge, um Fakten von Fiktion unterscheiden zu können.
    Selbst nach

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