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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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trank beträchtlich mehr als ich. Ein Esszimmer gab es nicht, also saßen wir auf dem Sofa, die Teller vor uns auf dem Couchtisch, einem Möbel mit Glasoberfläche und schwarzem Rahmen, das geradezu nach Junggesellenbude schrie. Im Laufe des Abends ließ unsere Nervosität dank des Weins etwas nach, und er berührte immer wieder meinen Arm, tätschelte mein Bein und streifte mich mit seinem Körper. Als wir unseren Nachtisch aufgegessen hatten, einen Erdbeer-Käse-Kuchen aus der Tiefkühltruhe, der noch nicht ganz aufgetaut war, wurde mir klar, dass es keinen eleganten Weg für mich gäbe, mich aus dieser Situation herauszuretten. Er legte den Arm um mich, zog mich auf dem Sofa näher an sich und sagte: »Versprich mir, dass du nie wieder einen meiner Kurse belegst.«
    »Warum?«
    »Weil ich, wenn du meine Studentin wärest, das hier nicht tun könnte.« Dann küsste er mich.
    Ich war immer noch dankbar für seine Freundschaft, dafür, wie er mir durch die langen Monate seit Lilas Tod geholfen hatte. Hätte ich mir deutlicher vor Augen geführt, dass er elf Jahre älter war als ich, wäre ich vielleicht etwas zurückhaltender gewesen - aber dazu war ich inzwischen zu betrunken. Ich ging mit ihm ins Bett, weil mir einfach kein einleuchtender Grund einfiel, es nicht zu tun. Aber selbst, als wir uns im dämmrigen Licht seines Schlafzimmers auszogen, wusste ich schon, dass ich es nicht wiederholen würde. Im Verlauf des Abends hatte er eine kaum merkliche Wandlung durchgemacht. Die Kleidung, der Couchtisch, die Räucherstäbchen
auf dem Nachttisch, all das warf ein anderes, irgendwie klägliches Licht auf ihn. Vor diesem Abend hatte ich ihn nur in einem bestimmten Kontext gekannt. Als der Vorhang sich teilte und ich einen Blick auf sein Privatleben erhaschte, konnte ich nicht anders, als ihn ein wenig zu bemitleiden. Später lud er mich noch einige Male zu sich in die Wohnung ein, aber ich lehnte jedes Mal unter einem Vorwand ab. Ich war ihm dankbar, dass er die Sache nicht forcierte, sondern meinem Beispiel folgte und tat, als wäre es nie passiert.
    Es war ein so kurzer Ausrutscher gewesen, ein so unbedeutender Exkurs in unserer monatelangen Freundschaft, dass es mir tatsächlich beinahe völlig entfallen war. Immerhin war ich in diesem Jahr mit einigen Männern zusammen gewesen, die ich nicht besonders gut kannte. Im Vergleich dazu war Thorpe ein lieber Freund, ein treuer Vertrauter, und es war nicht sehr überraschend, dass wir miteinander im Bett landeten, wenn auch nur für eine Nacht. Aber als ich nun darüber nachdachte, noch dazu aus der Perspektive einer Enddreißigerin, wurde mir unwillkürlich etwas unwohl. Ich war damals erst neunzehn gewesen. Offensichtlich hatte es Thorpe nicht ausgereicht, meine Geschichte zu haben. Wenigstens für eine Nacht hatte er auch mich haben müssen.

16
    AUF DEM WEG AUS DER STADT heraus Richtung South City ließ ich die malerische Skyline San Franciscos hinter mir und durchquerte die flache Industrielandschaft der Halbinsel. Ich hatte mir nach der Nicaragua-Reise ein paar Tage freigenommen und freute mich jetzt, zu Golden Gate Coffee zurückzukehren. Aus einen halben Kilometer Entfernung roch ich schon den üppigen Karamellduft von röstendem Kaffee. Ich parkte hinter dem Gebäude. Es war ein warmer Tag, und die Sonne strahlte über der schimmernden Bucht.
    Drinnen telefonierte Dora mit dem Broker und kaufte Kaffee auf dem Terminmarkt. Schon bald würden riesige Säcke davon in Äthiopien, dem Geburtsland des Kaffees, auf ein Schiff verladen werden und ihre Reise gen Westen antreten. Es würde mehrere Wochen dauern, bevor sie im Hafen von Oakland einträfen. Noch bevor der Kaffee entladen wurde, würden Proben zu uns ins Büro gebracht, wo Mike und ich sie rösten und verkosten würden.
    »Warte, bis der Yirgacheffe bei hundertvierzehn Dollar steht«, sagte Dora ins Telefon. Sie hielt die Hand auf den Hörer und begrüßte mich. »Hallo, Fremde.«
    Ich hatte mir die Kaffeebörse nur einmal angesehen, im Sommer 2001, als die New Yorker Coffee Exchange , die größte Kaffeebörse der westlichen Hemisphäre, noch im World
Trade Center untergebracht war. Ein paar Monate später lagen die verwüsteten Handelsbüros unter einer Tonne Schutt begraben, und die Kaffeehändler hatten sich in trostlosen Räumen mit niedrigen Decken jenseits des East River niedergelassen. Nur wenige Tage nach dem 11. September machte die provisorische Börse wieder kräftig Geschäfte. Was auch passieren

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