Niemand, Den Du Kennst
dem Ende meiner Beziehung mit Henry behielt All About Coffee einen Ehrenplatz auf dem Sideboard in meinem Esszimmer. Neben dem silbernen Feuerzeug, das ich ihm an jenem Tag in Guatemala gekauft hatte, diente das Buch als Erinnerung an unsere gemeinsame Geschichte. Genau wie Golden Gate Coffee. Jeder dort kannte ihn. Seine blauen Augen leuchteten immer noch aus dem riesengroßen Belegschaftsfoto, das in der Lobby hing. Auf dem Bild standen
wir nebeneinander, er hatte seinen Arm um meine Schultern gelegt, ich meinen um seine Taille. Wenn ich abends noch allein im Büro war, ertappte ich mich immer mal wieder dabei, wie ich vor dem Foto stand und es anstarrte, zu ergründen versuchte, was genau damals schiefgegangen war.
17
DAS LITERARISCHE MITTAGESSEN des San Francisco Ladies’ Bureau fand im Restaurant eines Hotels im Zentrum statt. Die runden Tische waren mit weißen Tellern und rosa Servietten gedeckt, jeder geziert von einem Stapel Exemplare des neuen Werks, Blut im Silicon Valley . Ich suchte mir einen Platz weit hinten.
Rechts von mir saß eine attraktive Frau Ende vierzig, die sich mit den Worten an mich wandte: »Und wer sind Sie?«
»Ellie.«
»Willkommen.« Sie streckte mir ihre Hand hin. »Ich bin Maggie. Das sind Dwight, Barbara, Stella und meine Tochter Claire.«
»Ich werde ihn für die Zeitung interviewen«, erklärte Claire. Sie war zierlich, blond, mit blauen Augen und einer Haut, wie man sie sonst nur in der Make-up-Werbung sieht.
»Was für eine Zeitung?«
»Von der Mercy Highschool.«
Plötzlich fühlte ich mich sehr alt. Nach Lilas Tod hatte mein Vater sich in sich selbst zurückgezogen, und zwar so stark, dass meine Mutter bei mir Gesellschaft suchte. Mit dem Ergebnis, dass ich für geraume Zeit als ihre Begleiterin bei Mittagessen, Betriebsfesten und Weinverkostungen fungiert hatte. Wir waren so viel zusammen, dass ich das
Gefühl hatte, mehr Umgang mit Menschen im Alter meiner Mutter zu haben als in meinem eigenen. Ihre Freunde schienen meine Anwesenheit zu begrüßen und zeigten immer aufrichtiges Interesse an meinem Studium, meinen Freunden. Ich erinnerte mich so deutlich daran, wie es war, in Claires Alter zu sein - dankbar für die Aufmerksamkeit der Freunde meiner Mutter, aber auch selbstgefällig stolz auf meine Jugend. In diesem Alter war es unmöglich, sich der Macht nicht bewusst zu sein, die das Jungsein mit sich brachte. Claire besaß unübersehbar denselben Stolz und dasselbe Selbstbewusstsein. Als der Kellner kam, um unsere Wassergläser aufzufüllen, konnte er den Blick nicht von ihr abwenden, und sie nahm sein Interesse hin, als stünde es ihr zu.
Lila hingegen hatte nie die Arroganz der Jugend besessen. Vielleicht hatte das etwas damit zu tun, dass sie, in Mathejahren gerechnet, damals schon ein fortgeschrittenes Alter erreicht hatte. »Wenn ich mir einen Namen machen will, dann bleibt mir nicht viel Zeit«, erzählte sie mir in ihrem letzten Jahr in Berkeley. »Niels Henrik Abel war erst neunzehn, als er bewies, dass eine allgemeine Gleichung fünften Grades nicht durch eine finite Formel gelöst werden kann. Gauß veröffentlichte seine Disquisitiones Arithmeticae mit vierundzwanzig. Galois entdeckte den Zusammenhang zwischen Gruppentheorie und polynomiellen Gleichungen, bevor er mit zwanzig Jahren bei einem Duell ums Leben kam. Wie Hardy sagte: ›Mathematik ist ein Spiel der jungen Männer.‹ Oder, in meinem Fall, jungen Frauen.«
Stella zog zwei Handys und einen Pieper aus ihrer Handtasche und reihte sie über ihrem Teller auf, als könnte sie jeden Moment in einer dringenden Angelegenheit abberufen werden. Sie trug ein hässliches, aber teuer aussehendes
grünes Kostüm. »Ich habe jedes von Thorpes Büchern gelesen, sogar Aller guten Dinge sind zwei «, sagte sie.
»Das war mein erstes«, steuerte Claire bei. »Ich fand es toll. Danach habe ich mir Tod eines Langstreckenläufers von Mom ausgeliehen, und jetzt arbeite ich mich sozusagen in umgekehrter Reihenfolge vor.«
»Warte nur, bis du Mord in der Bucht gelesen hast«, sagte Barbara. »Das ist mit Abstand das beste.«
»Ich bin einmal der Mutter begegnet«, erzählte Dwight. Die Aufmerksamkeit am Tisch verschob sich sichtbar; alle Köpfe wandten sich ihm zu. »Bei einer Spendengala für das San Francisco Ballet. Sie war die netteste Dame, die man sich vorstellen kann. Wir haben Tipps über die Geranienzucht ausgetauscht.«
Ich bezweifelte stark, dass meine Mutter jemals bei einer Spendengala der
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