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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Ballettkompanie war. Definitiv hatte sie sich nie für Geranien interessiert. Er musste sich aus Thorpes Buch an ihren grünen Daumen erinnert haben. Thorpe hatte zwei Seiten lang die komplexe Anlage ihres Gartens beschrieben, den sie ihm einmal gezeigt hatte, als er zum Essen bei uns eingeladen war. Die Frage war - glaubte Dwight tatsächlich, dass er sie kennengelernt hatte, oder tat er nur so, um sich interessant zu machen? Eine Sache, die ich über die Jahre herausgefunden hatte, war, dass eine Familientragödie wie ein schweres Erdbeben oder ein terroristischer Anschlag ist: Niemand will es persönlich erleben, aber jeder möchte so nah wie möglich an den Schauplatz der Katastrophe herankommen.
    Maggie tippte mir auf den Unterarm. »Haben Sie es gelesen?«
    »Ja, aber das ist lange her.«
    »Und? Wie fanden Sie es?«

    Ich trank einen Schluck Wasser. Ein Stückchen Zitronenfruchtfleisch blieb in meinen Zähnen stecken. »Es war gut geschrieben.« Ich konnte mich in dem Moment, unter diesen Menschen nicht dazu überwinden, zu sagen, dass das ganze Buch ein Verrat monumentalen Ausmaßes an meiner Familie war.
    »Ich persönlich finde, dass bisher keines von Thorpes Büchern an sein erstes Buch herankam«, sagte Maggie. Sie wandte sich an Claire. »Es ist ein Klassiker, weißt du. Das kannst du in deiner Schülerzeitschrift schreiben.«
    »Aber es gibt doch massenweise Tatsachenromane auf dem Markt«, wandte ich ein. »Was genau hat denn an Mord in der Bucht solchen Eindruck hinterlassen?«
    Es war eine Frage, die ich noch nie jemandem gestellt hatte. Nachdem ich das Buch zum ersten Mal gelesen hatte, wollte ich vergessen, dass es überhaupt existierte. Selbst mehrere Jahre danach konnte es mir noch einen ansonsten guten Tag ruinieren, jemanden damit im Bus zu sehen oder in einem Antiquariat über ein gebrauchtes Exemplar zu stolpern. Jedes Mal, wenn es flüchtig in mein Blickfeld geriet, strömten die Erinnerungen an den Tag, als meine Eltern in ihrem grauen Volvo aus der Ausfahrt rollten und sich auf den Weg zum Leichenschauhaus in Guerneville machten, wieder auf mich ein.
    »Als ich es gelesen habe«, sagte Stella, »hatte ich das Gefühl, dort draußen im Wald bei dem armen Mädchen zu sein, wo ihre Leiche abgelegt wurde. Meine eigene Tochter war damals zehn Jahre alt, und es erschütterte mich bis ins Mark. Ewig lange konnte ich sie danach nicht aus dem Haus lassen, ohne mir Sorgen zu machen, dass ihr etwas Schreckliches zustoßen würde.«
    »Das war ja noch nicht alles«, meinte Maggie. »Natürlich
machte das einen Teil aus - die Angst, dass einem geliebten Menschen etwas zustoßen könnte. Aber für mich lag die Faszination vor allem darin, dass ich glaubte, Lila zu kennen. Was für ein liebes, kluges Mädchen sie war, so unheimlich vielversprechend. Genau die Tochter, auf die jede Mutter stolz wäre. Man investiert alles in das eigene Kind - Zeit und Geld selbstverständlich, aber auch Gefühle und Hoffnung. So viel fließt in ein Leben, so viel fließt in das Aufziehen eines Kindes. Für eine Mutter ist es ein absolut entsetzlicher Gedanke, dass ein einziger Mensch alldem ein Ende setzen könnte.«
    »Wenigstens war es kein willkürlicher Gewaltakt«, bemerkte Stella. »Nichts ist grauenhafter als die Vorstellung, von einem Wildfremden angegriffen zu werden.«
    Nicken in der Runde. Ich glaubte, dass Stella einen Schlüsselaspekt des Buches angesprochen hatte. Der wichtigste Effekt der Nennung McConnells als Mörder lag darin, den Lesern zu versichern, dass ihnen das nicht passieren konnte. Thorpes Version der Geschichte hinterließ den Eindruck, dass Gewalt nicht willkürlich geschah, sie war nichts, was braven, normalen Leuten zustieß, die ihr braves, normales Leben führten. In der überwältigenden Mehrheit der Fälle , schrieb er im Vorwort, kennt das Opfer seinen Mörder .
    Eine leichte Unruhe entstand im Raum, und ich drehte mich um. Andrew Thorpe kam durch die Tür.
    Er hatte abgenommen. Damals, als ich ihn kannte, war er zwar nicht übergewichtig gewesen, aber er hatte immer etwas plump gewirkt, eine Folge seiner Abneigung gegen frische Luft und seines ausgeprägten Hangs zu Pasta und Bier. Jetzt war er schlank und gebräunt, die Haare vollständig abrasiert. Er trug eine schwarze Nadelstreifenhose, ein gut sitzendes schwarzes Hemd und Stiefeletten. Der Gesamteindruck ging in Richtung Bruce Willis, doch er bewegte sich in den Sachen
steif, als hätte jemand anders sie für ihn ausgesucht. Mit

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