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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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seinen fünfzig Jahren wirkte er gesünder als damals mit dreißig.
    Eine Frau in einem gelben Hosenanzug führte ihn auf ein Podest und stellte ihn vor.
    »Es ist mir ein großes Vergnügen, hier bei Ihnen zu sein«, begann Thorpe mit breitem Lächeln. »Man arbeitet so lange in völliger Einsamkeit an einem Buch - wenn man dann endlich in die Welt hinaus und darüber sprechen darf, ist das, wie aus dem Gefängnis entlassen zu werden.« Der Südstaatenakzent, der früher nur als schwaches Überbleibsel wahrnehmbar gewesen war, klang jetzt viel stärker. Mir drängte sich der Verdacht auf, dass er ihn für das Publikum extra betonte.
    »Apropos Gefängnis«, fuhr er fort. »Ich komme gerade von der Pelican-Bay-State-Strafanstalt zurück, wo ich Johnny Grimes getroffen habe, der dort - Sie erinnern sich vielleicht - zwanzig Jahre bis lebenslänglich für den Mord zweiten Grades an Stacy Everett und Greg Simmons absitzt.«
    Nicken und Murmeln. Die Kellner servierten die Vorspeise: Eisbergsalat mit Gorgonzolasoße. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal Eisbergsalat in einem Restaurant gegessen hatte. In einem hipperen Lokal hätte ich das für einen neuen Trend gehalten, aber in diesem Fall wusste ich, dass die Vorspeise vermutlich seit Jahrzehnten auf der Karte stand. Unser Kellner schielte in Claires Bluse, als er den Salat vor ihr abstellte; sie beugte sich vor, um ihm einen besseren Blick zu gewähren.
    Thorpe sprach einige Minuten davon, wie sein Interesse für die Morde im Silicon Valley geweckt worden war. Er erwähnte seine Freundschaft mit den Familien der Opfer, und ich fragte mich, wie ihre Darstellung der Beziehung wohl ausfiele. Hatten sie Thorpe in ihr Leben gelassen? Hatte er in ihren Häusern am Esstisch gesessen, so wie bei uns? Hatten
sie ihm ihre Fotoalben gezeigt, ihm Super-8-Filme von ihren Kindern aus glücklicheren Zeiten vorgeführt? Ich konnte mir vorstellen, dass sie, hätten sie in der Angelegenheit ein Mitspracherecht gehabt, lieber auf das ganze Buch verzichtet hätten.
    Die Salatteller wurden abgeräumt und der Hauptgang serviert: gegrillte Hühnerbrust mit Reis und Brokkoliröschen. Thorpe hatte sein Vorwort inzwischen beendet und begann zu lesen. Mir ging durch den Kopf, ob außer mir noch jemand es seltsam fand, an Hühnchen und Brokkoli zu nagen, während Thorpe eifrig eine besonders blutige Szene vorlas. Es war das erste Kapitel, und wie in dem Buch über Lila begann es mit einer Beschreibung der Leichen, wie man sie nach dem Verbrechen aufgefunden hatte. Das war sein Ding, dafür war er bekannt - seine, in den Worten eines Rezensenten, »unerschrockene Schilderung des Tatorts«.
    Beim Lesen blickte Thorpe vom Buch auf, stellte Augenkontakt zum Publikum her. Ich wartete darauf, dass er mich entdeckte. Würde ihn meine Anwesenheit aus dem Gleichgewicht bringen? Würde er ins Stottern geraten, die Stelle auf der Seite verlieren? Doch dann bemerkte ich, dass er in Wirklichkeit mit niemandem Augenkontakt einging, sondern den Blick immer knapp über Augenhöhe des Publikums hielt, um den bloßen Anschein einer Interaktion mit den Zuhörern zu erzeugen. Und mir fiel ein, dass er dasselbe schon früher im Unterricht getan hatte. Eines Nachmittags beim Eisessen im Mitchell’s hatte er mir das gestanden. »Wenn ich den Studenten in die Augen sehe, werde ich nervös«, sagte er. »Also tue ich nur so, als ob.«
    Das Dessert kam. Gerade, als sich die literarisch interessierten Damen und Herren auf ihre Schokoladentorte stürzen wollten, sagte Thorpe: »Gibt es irgendwelche Fragen?«

    Eine gebrechlich wirkende Frau am Nachbartisch hob die Hand, und Thorpe nickte ihr zu. »Was war das Schwierigste am Schreiben dieses Buches?«, fragte sie.
    »Einfach nur, das Netz zu entwirren«, antwortete Thorpe. »Wenn man einen Roman schreibt, dann hat man die totale Macht über die Ereignisse und die Figuren, die absolute Kontrolle über die Handlung. Man beginnt mit einer leeren Leinwand. Aber bei einem Sachbuch ist man den Fakten ausgeliefert. Für dieses Buch habe ich Dutzende von Leuten interviewt. Jeder hatte seine eigene Version der Geschichte, und jede Version war anders.«
    Jemand fragte ihn, wie seine Frau Aller guten Dinge sind zwei fand. »Sie hat es gehasst«, sagte er. »Bis sie die erste Honorarabrechnung gesehen hat.«
    Die Leute lachten. Gabeln klirrten. Die Kellner gingen mit Kaffee herum.
    »Wie finden Sie die Geschichten, über die Sie schreiben?«
    »Eigentlich finde ich

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