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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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die Geschichten nicht«, sagte Thorpe. »Die Geschichten finden mich. In diesem Fall beispielsweise hatte ich einen Freund, der zur Zeit der Morde bei Yahoo arbeitete. Eines Tages spielten wir zusammen Golf, und er erzählte mir, dass die Firma durch die Ereignisse total auf den Kopf gestellt worden sei. Er sprach davon, wie ängstlich die Leute plötzlich waren und dass nach dieser Gewalttat eine Kultur des Misstrauens auf dem Yahoo-Gelände entstanden war. Für mich war das eine Story, die geradezu danach schrie, erzählt zu werden. Mich interessierten weniger die Morde als vielmehr ihre Nachwirkungen, und ich war weniger von den Opfern fasziniert als von den Menschen, die zurückgeblieben waren, von der Wandlung ihrer Beziehungen untereinander.«
    Als ich Thorpe dabei beobachtete, wie er die Anwesenden bearbeitete, versuchte ich mir zu vergegenwärtigen, was genau
an ihm mich damals dazu gebracht hatte, derart bereitwillig persönliche Details zu erzählen, Dinge, die ich niemandem sonst enthüllt hatte. Seine Überzeugungskraft war inzwischen noch stärker ausgereift, als hätte er sie in den vergangenen zwanzig Jahren perfektioniert. Er hatte die Sonntage seiner Kindheit in einer Südstaaten-Baptistenkirche in Tuscaloosa verbracht, und ich konnte nicht leugnen, dass ihn die Aura eines Predigers umgab - eine routinierte, volkstümliche Präsenz, bei der jeder sich leicht auf dem Sitz nach vorn beugte.
    Es ragten immer noch Hände in die Luft, als Thorpe lächelte und sagte: »Gut, wenn es keine Fragen mehr gibt …«, und vom Podium trat.
    Die Frau im gelben Hosenanzug wies alle an, eine Schlange vor dem Signiertisch zu bilden.
    Thorpe signierte zügig, den Kopf gesenkt, jeweils ein paar Worte mit seinem Gegenüber wechselnd, bevor er das Buch mit einem Lächeln zurück über den Tisch schob. Je weiter sich die Schlange vorwärtsschob, desto deutlicher spürte ich einen Knoten in der Magengegend. So viele Male hatte ich ihn in all den Jahren zur Rede stellen wollen, aber irgendetwas hatte mich immer abgehalten. Zum einen wusste ich nicht, ob ich die Kraft haben würde, ihm gegenüberzutreten, aber noch entscheidender war, dass eine Konfrontation so nutzlos schien. Das Buch war geschrieben, es konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden. Welchen Nutzen konnte es haben - für mich, für meine Eltern oder für Lila -, die Wunde wieder aufzureißen? Doch nun war alles anders. Wenn das Buch aus Lügen bestand, wie McConnell behauptete, dann war Thorpes Verrat noch viel schlimmer. Ich musste von ihm selbst hören, wie viel Wahrheit diese Seiten enthielten.
    Als ich an der Reihe war, nahm er das Buch entgegen, ohne mich anzusehen. »Und für wen soll das hier sein?«

    Ich gab keine Antwort.
    »Möchten Sie eine Widmung, oder soll ich nur signieren?«, fragte er langsam ungeduldig. Dann blickte er auf, den Stift über der Seite schwebend. Sein Mund klappte auf, aber er sagte nichts. Er legte den Stift weg und machte Anstalten, aufzustehen, überlegte es sich aber offenbar anders und setzte sich wieder. »Ellie, ich …«
    Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich ihn sprachlos sah.
    »Hallo.«
    »Hallo«, quetschte er mühsam mit leiser Stimme hervor. Seine Augen sahen feucht aus, aber der Thorpe, den ich einmal kannte, wäre niemals so emotional bewegt gewesen, dass ihm die Tränen kämen.
    Schließlich schob er den Stuhl zurück und stand auf, beugte sich mit ausgestreckten Armen über den Tisch. Als mir bewusst wurde, dass er mich umarmen wollte, trat ich zurück. Er ließ die Arme sinken, warf einen Blick auf die ungeduldig hinter mir wartenden Fans und setzte sich wieder. »Ich kann nicht fassen, dass du hier bist. Du weißt ja gar nicht, wie gut es tut, dich zu sehen.« Wieder schwieg er einen Moment. Und dann: »Mein Gott, Ellie, du hast dich wirklich überhaupt nicht verändert.« Sein Südstaatenakzent war praktisch verschwunden. Einen Augenblick lang war er der alte Thorpe - der Freund, den ich kannte, bevor diese ganze schreckliche Sache mit dem Buch anfing.
    Die Frau im gelben Hosenanzug zupfte an seinem Ärmel. »Mr. Thorpe, wir haben den Raum nur bis eins gemietet.«
    »Natürlich«, sagte er und fasste sich allmählich wieder.
    Er lehnte sich zu mir vor, als wollte er etwas Vertrauliches zu mir sagen, obwohl offensichtlich war, dass die Frau im gelben Hosenanzug und die Leute hinter mir in der Schlange
uns belauschten. »Hör mal, ich fahre von hier aus direkt mit dem Taxi zum Flughafen. Ich muss

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