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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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nach New York, komme aber in ein paar Tagen zurück. Ruf mich an.« Er schrieb seine Telefonnummer in das Buch. »Nein, noch besser, komm vorbei, bitte. Wir haben uns so viel zu erzählen.«
    Schon notierte er seine Adresse. »Im Ernst, komm jederzeit vorbei.«
    Ich versuchte, eine Antwort zu formulieren, aber die Frau im gelben Hosenanzug packte mich am Ellbogen und schob mich weiter.
    »Warte«, sagte Thorpe und kam hinter dem Tisch hervor. »Fahr doch mit mir zum Flughafen. Ich zahl dir die Taxifahrt zurück.«
    Ihn in diesem Raum voller Menschen zu sehen war verstörend genug. Ich stellte mir uns zusammen in einem Taxi vor, Seite an Seite auf engstem Raum. »Ich muss zurück zur Arbeit«, sagte ich.
    »Kommst du bei mir vorbei?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Du kommst.« Seine Stimme klang jetzt fest, voller Gewissheit. »Ich bin am Dienstag wieder da.«
    Ein paar Minuten später stand ich vor dem Restaurant im Getöse der Market Street, Thorpes neuesten Bestseller an mich gepresst, und fühlte mich genauso wie vor all den Jahren, als er mir im Nebel am Ocean Beach hinterherrief, nachdem er mir gerade mitgeteilt hatte, er werde das Buch auf jeden Fall veröffentlichen. Das war Thorpes Begabung, das, was er am besten konnte: Jede Geschichte, die er erzählte, jedes Gespräch, an dem er sich beteiligte, endete zu seinen eigenen Bedingungen.

18
    »ZU JEDEM MENSCHLICHEN EREIGNIS«, pflegte Thorpe zu sagen, »existiert eine Geschichte. Zu jedem Gefühl, jedem Geheimnis, jedem historischen Bezugspunkt gibt es eine Erzählung, die zu erklären strebt.«
    Es liegt nahe, dass es auch zum Kaffee eine Geschichte gibt. Es war Henry, der mir diese Geschichte erzählte, bei unserer zweiten Verabredung. Wir hatten uns erst wenige Tage zuvor in den Büroräumen von Golden Gate Coffee kennengelernt, wo er eine Stelle im Vertrieb angetreten hatte. Henry hatte seine berufliche Laufbahn als Lagerhilfe bei Welsh’s Coffee Roaster in San Mateo begonnen, während er noch auf der Highschool war. Als ich ihn traf, verbrachte er einen Großteil seiner Freizeit damit, sich als Fürsprecher der Kaffeebauern zu engagieren. Zu dieser Zeit waren die jungen Einwohner San Franciscos teilweise so unverschämt reich, dass es wirklich sexy war, einen Mann kennenzulernen, der sich nicht viel aus finanziellem Profit machte - zumindest nicht aus seinem eigenen.
    Er erzählte mir die Geschichte nicht bei einem Kaffee, sondern bei einem Bier im 500 Club im Mission District. Zwar wusste er durchaus die edleren Dinge zu schätzen, und einmal im Jahr prasste er mit einer Mahlzeit im Chez Panisse, doch er hatte ein Faible für ganz normale Eckkneipen. Am
Anfang unserer Beziehung gestand er mir, dass das Treffen im 500 Club eine Art Test gewesen sei. »Wenn du die Nase über die alten roten Plastiksitzbänke und den Billardtisch gerümpft hättest«, sagte er, »dann hätte das bedeutet, dass du nicht die Richtige für mich bist.«
    Aber ich war viel zu fasziniert von Henry gewesen, um der Einrichtung viel Beachtung zu schenken. Mit seinen knapp eins achtzig schien er den Raum, den er durchschritt, mit größerer Bestimmtheit für sich zu beanspruchen, als es bei viel größeren Männern oft der Fall war. Er hatte hellbraunes Haar, so helle blaue Augen, dass sie mich an diesen einen Song von Velvet Underground erinnerten, und milchig weiße Haut, die sich in der Sonne schnell rosa färbte. Sein etwas schiefes Lächeln strahlte Freundlichkeit aus und ließ ihn schüchterner wirken, als er tatsächlich war. Er trug selten etwas anderes als Jeans und dunkle Pullis, aber bei Schuhen hatte sein Geschmack einen Hang zum Abenteuerlichen. An dem Tag, als wir uns zum ersten Mal begegneten, trug er Stiefel aus einem glänzenden schwarzen Material, das aussah wie Fell. Er bezeichnete sie scherzhaft als seine Pferdefellstiefel, beteuerte dann aber sofort, dass kein Pferd für die Herstellung sein Leben gelassen hatte. In der Öffentlichkeit hatte er eine angenehm klangvolle Stimme, die häufig die Aufmerksamkeit auf ihn zog, doch im Privaten sprach er so leise, dass ich ihn oft bitten musste, das Gesagte noch einmal zu wiederholen.
    »Die Geschichte beginnt in Abessinien im neunten Jahrhundert«, sagte er. Zwei Gläser Bier standen auf dem kleinen Tisch zwischen uns. Ich beugte mich weiter vor, um ihn hören zu können. »Alles fängt mit einem jungen Hirten namens Kaldi und seinen Ziegen an, die sich eines Abends weigern, ihm nach Hause zu folgen. Sie sind völlig

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