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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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vertieft in
ihre neue Entdeckung, einen Baum, den Kaldi nie zuvor gesehen hat, mit dunklen, glänzenden Blättern und roten Beeren. Sie fressen und fressen, und Kaldi braucht lange, um sie vom Berg herunterzulocken.«
    Henry gestikulierte viel, wenn er sprach. Obwohl er einen Bürojob hatte, besaß er die rauen, schwieligen Hände eines Arbeiters. Später sollte ich erfahren, dass er nebenher noch als Möbelpacker jobbte, um Geld für die Gründung einer eigenen Firma zu sparen.
    »In jener Nacht«, fuhr er fort, »schlafen die Ziegen nicht. Und am nächsten Morgen, als Kaldi sie wieder zu ihrem Weideplatz auf dem Berg führt, kehren sie sofort zu dem Baum zurück. Wie Eva ist auch Kaldi neugierig; er muss selbst probieren. Die Beeren des merkwürdigen Strauchs verleihen ihm eine Empfindung von Wachheit und Wohlbefinden. Er fühlt sich tatkräftiger, klüger. Er geht nach Hause und erzählt seinen Verwandten und Freunden von seinem Erlebnis. Innerhalb von zwei Wochen haben die Derwische im nahe gelegenen Kloster entdeckt, dass das Kauen der Blätter der mystischen Pflanze sie mit weniger Schlaf auskommen lässt, sodass sie mehr Zeit haben, sich ihrer leidenschaftlichen Verehrung Gottes zu widmen.«
    Ich fragte mich, wie ich seit Jahren bei Golden Gate Coffee arbeiten konnte, ohne diese Sachen je nachgeschlagen zu haben. Mit der Zeit sollte ich feststellen, dass Henry etwas besaß, was ich vor langer Zeit verloren hatte - eine Leidenschaft für Details, ein gutes Gedächtnis nicht nur für Daten und Ortsnamen, sondern auch für die Eigentümlichkeiten, die eine Geschichte besonders machen. Er merkte sich die Einzelheiten, weil er aufmerksam war, und er stellte Fragen und brannte sich Informationen ins Gedächtnis ein, indem er sie an andere weitergab, Geschichten so oft wiederholte, bis
er sie sich angeeignet hatte. Für mich war das Leben ein Haus, das ich still durchquerte, bemüht, keinen Staub aufzuwirbeln und nicht gegen die Möbel zu stoßen. Henry war das genaue Gegenteil; er bewegte sich mit ausgestreckten Armen durchs Leben, nahm alles in die Hand und wog es ab, klopfte an Wände, um ihre Festigkeit zu testen.
    »Ich wünschte, ich wäre mehr wie du«, sagte ich einmal zu ihm, als wir etwa sechs Monate zusammen waren. »Ich wünschte, ich könnte mich einfach ins Leben stürzen, ohne alles so genau analysieren zu müssen.«
    »Was hindert dich daran?«, fragte er. Wir lagen, die Gesichter einander zugewandt, im Bett, wegen der Kälte voll bekleidet, und er sah mich mit diesen durchdringenden blauen Augen an, abwartend.
    »Das weiß ich nicht.«
    Ich hatte das Gefühl, als wartete er immer darauf, dass ich ihm etwas erzählte, aber ich konnte die Worte nie recht finden, konnte nie ganz loslassen und genau aussprechen, was mir durch den Kopf ging. Bei Henry strengte ich mich ehrlich an, mich zu öffnen, aber meistens zögerte ich, die volle Wahrheit zu sagen.
    Ein paar Minuten lang sprach keiner von uns, wir lagen nur da, ganz nah beieinander, aber ohne uns zu berühren. Ich hatte meine Augen geschlossen und dämmerte gerade ein, als seine Stimme mich zurückrief. »Du bist überhaupt nicht wie sie, weißt du«, sagte er.
    »Was?«
    »Das Mädchen in dem Buch. Sie hat vielleicht deinen Namen, deine Geschichte, dein Gesicht, aber sie ist eine Erfindung. Andrew Thorpe hat sie sich ausgedacht. Du bist nicht sie.«
    Ich wollte ihm glauben, aber ich war nicht überzeugt. Ehrlich,
wie konnte Henry glauben, dass er mich besser kannte als Thorpe? Ich hatte Thorpe alles erzählt.
    »Wer bin ich dann?«, fragte ich, ohne mit einer Antwort zu rechnen.
    »Du bist du«, sagte er ohne Zögern. »Du bist Ellie Enderlin, und ich liebe dich.«
    »Wirklich?«
    Das hatte er noch nie gesagt. Ich fühlte das Gleiche für ihn, aber ich hatte noch nicht vorgehabt, es zu sagen. Ich dachte, wir stünden noch zu sehr am Anfang unserer Beziehung, um etwas so Gewaltiges auszusprechen, etwas, das man nicht wieder zurücknehmen konnte.
    »Ja, wirklich«, sagte er. Und dann wartete er wieder. Ich versuchte, den Mut aufzubringen, aber die Worte wollten mir nicht über die Lippen kommen. Eines, was ich Henry immer hoch anrechnen würde, war, dass er sich nicht abwandte. Obwohl ich ihm in jener Nacht nicht sagte, dass ich ihn liebte, zog er mich an sich. Mein Körper entspannte sich, und ich merkte, dass ich dabei war, mich zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben wirklich sicher zu fühlen.

19
    »Die Aussicht war es, die uns schließlich

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