Niemand, Den Du Kennst
das Bild war nicht aus dem China Basin, es war aus dem Candlestick. Es hätte sogar ein Football-Spiel der 49ers gewesen sein können. Die Frau auf dem Foto war zierlich, mit rötlich blondem Haar und Grübchen, aber das war es dann auch schon an Gemeinsamkeiten. Ich fand überhaupt nicht, dass sie mir besonders ähnlich sah. Thorpe lebte in seiner eigenen kleinen Welt.
Er setzte sich aufs Bett und zog mich zu sich herunter. »Du warst an einem Wendepunkt, Ellie. Ich war ein frustrierter Autor, gelangweilt von meinem Job, ohne Ziel. Wenn ich dich
nicht getroffen hätte, dann wäre Lilas Geschichte für mich nicht mehr als eine Meldung in den Nachrichten gewesen, etwas, was man schnell vergisst. Deinetwegen hörte ich auf, nur vom Schreiben zu reden , und setzte mich tatsächlich hin und schrieb. Du warst meine Muse. Ohne dich verlor ich den Boden unter den Füßen.«
»Du hast vier weitere Bücher geschrieben.«
»Ja, aber das war nicht mehr das Gleiche. Es gibt einen Grund dafür, warum jeder mein erstes Buch für mein bestes hält. Die anderen waren gezwungen - kompetent vielleicht, da ich inzwischen wusste, was ich zu tun hatte, aber gezwungen. Jeder Satz war anstrengend. Bei Mord in der Bucht floss es einfach. Tagsüber traf ich dich oder telefonierte zumindest mit dir. Abends schrieb ich, beflügelt von unseren Gesprächen.«
»Du vergisst eine Sache«, sagte ich.
»Hmm?«
»Während der ganzen Zeit, in der ich mit dir über Lila und meine Familie sprach, hast du mich benutzt. Du warst für mich ein Freund, und ich war für dich eine Quelle.«
»So war es nicht.« Er drehte seinen ganzen Körper zu mir herum. »Die Menschen kennen Lilas Namen. Zwanzig Jahre später sprechen sie immer noch von ihr. Sie lieben sie. Ohne das Buch wäre sie einfach eine weitere tote junge Frau.«
»Sie lieben sie nicht«, sagte ich. »Sie sind von ihr fasziniert. Für die Leute ist sie nur eine Leiche, die jemand im Wald gefunden hat, eine Katharsis. Wer das Buch liest, spürt die Erleichterung, dass es nicht seine Tochter oder Freundin oder Schwester war. Es ist die Tragödie einer anderen. Deine Leser können das Schauspiel genießen, aber sie müssen den Preis nicht bezahlen.«
»Du hast unrecht.« Er schüttelte den Kopf. »So ist das überhaupt nicht.«
Ich sah ihm an, dass er glaubte, was er sagte. Er glaubte wirklich, er hätte Lila in eine Art Kultheldin verwandelt. In seiner Version der Geschichte hatte er nur wenig falsch gemacht.
21
UM ZWEI UHR morgens saßen Thorpe und ich einander gegenüber an dem großen Glastisch bei einer halb aufgegessenen Pizza und einer fast leeren Flasche Wein. Er hatte darauf bestanden, mir etwas zu essen zu machen, und das Einzige, was er finden konnte, war eine tiefgefrorene Spinat-Artischocken-Pizza von Trader Joe’s. Ich war überrascht, wie gut sie schmeckte und wie hungrig ich war. Der Wein war köstlich, ein 2003er Pinot. Ich entdeckte eine Nuance von Himbeeren und Rauch und goss mir noch ein Glas ein. Thorpe war bereits bei seinem dritten.
Ich war erschöpft vom Reden und hatte doch noch keine Antworten bekommen. Jedes Mal, wenn ich das Gespräch auf Peter McConnell lenken wollte, lenkte er es auf etwas anderes zurück. Wir sprachen über eine Reise nach Lissabon, die er vor Kurzem gemacht hatte, einen wütenden Brief von seiner Exfrau, die in Aller guten Dinge sind zwei verewigt wurde, und ein frühes Bild des ungarischen Fotografen Martin Munkácsi, das er gerade erst für eine beträchtliche Summe erworben hatte. Ich hatte Munkácsis nüchterne, wunderschöne Schwarz-Weiß-Fotos vor einigen Jahren im San Francisco Museum of Modern Art gesehen. Die Ausstellung hatte berühmte Porträts amerikanischer Prominenter, Luftbilder weiblicher Piloten und die bekannten »Drei Jungen am Ufer
des Tanganjika-Sees« gezeigt. Doch das Bild, das Thorpe gekauft hatte, stammte aus den frühen Zwanzigerjahren, als Munkácsi noch ganz am Anfang seiner Karriere stand.
»Kennst du Munkácsis Geschichte?«, fragte Thorpe und hob sein Weinglas an die Lippen.
»Hat er nicht diese berühmten Bilder von Fred Astaire gemacht?«
»Ja, aber das eigentlich Interessante kam davor, bevor er vor Hitler floh und nach New York zog, damals, als er noch völlig unbekannt war. Eines Tages spazierte Munkácsi mit seinem Fotoapparat herum und sah eine Schlägerei auf der Straße. Er begann zu knipsen. Am Ende der Prügelei war ein Mann tot. Munkácsis Bilder wurden vor Gericht verwendet, um die Angeklagten
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