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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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zu entlasten - das brachte seine Karriere ins Rollen. Mir ist es gelungen, eins dieser Fotos von der Schlägerei aufzutreiben. Es wird mir nächsten Monat aus der Galerie in Budapest zugeschickt. Es soll genau hier hängen, über dem Kamin.«
    Ich stellte mir die Ansicht eines blutigen Kampfes über Thorpes Kamin vor. Was für ein Mensch wollte sich jeden Tag die Aufnahme einer gerade stattfindenden Tötung ansehen?
    »Glückspilz«, sagte ich.
    »Ja, nicht wahr? Du hättest mich in der Galerie erleben sollen, als ich den Besitzer überredete, sich davon zu trennen. Er hatte sich fest vorgenommen, es nur einem Ungarn zu verkaufen. Ich unterhielt mich über einen Dolmetscher mit ihm, dem ich eine hübsche Provision versprochen hatte, und am Ende stellte sich heraus, dass er nicht nur übersetzte. Er hat sich offenbar eine kunstvolle Geschichte ausgedacht über meine Familienverbindungen zu den Habsburgern.«
    »Ich meinte nicht dich«, sagte ich.
    »Wie bitte?«

    »Mit Glückspilz meinte ich den Mann, der vom Vorwurf des Verbrechens entlastet wurde.«
    »Ach so«, sagte Thorpe. »Natürlich.«
    Es war spät, und ich hatte Angst zu gehen, ohne das bekommen zu haben, weswegen ich eigentlich hier war. Als Nachteule war ich mir des nahenden Tagesanbruchs immer bewusst, konnte die Minuten verstreichen spüren. Meine besten Gespräche mit Henry hatten stets mitten in der Nacht stattgefunden. Der Sonnenaufgang bereitete der Intimität immer ein Ende; die Verletzlichkeiten, die Menschen in den Nachtstunden an die Oberfläche dringen ließen, schienen zusammen mit Mond und Sternen zu verschwinden.
    Thorpe nahm das Messer und schnitt seine Pizza in kleine Stückchen. Diese nervige Angewohnheit, sein Essen gleichsam zu sezieren, hatte ich ganz vergessen.
    »Ich wollte dich etwas fragen.«
    »Wie kann man ohne Trader Joe’s existieren?«, sagte Thorpe. »Ohne Tiefkühlkost würde ich verhungern. Hab ich dir je erzählt, dass ich einmal Joe Coulombe, dem Gründer der Trader-Joe’s-Kette, begegnet bin? Bei einem Spendendinner für die Oper von Los Angeles. Er ist ein großer Opernfan.«
    »Peter McConnell«, sagte ich.
    Thorpe pflückte eine Artischocke von der Pizza und kaute langsam darauf herum, den Blick starr auf seinen Teller gerichtet. Hätte ich ihn nicht so gut gekannt, dann hätte ich glauben können, er habe mich nicht gehört. »Trader Joe’s wurde erst so richtig groß, als es 1979 von einem der deutschen Aldi-Brüder gekauft wurde. Die Leute glauben heute noch, es gäbe einen Kalifornier namens Joe in Hawaiihemd und Panamahut, der den ganzen Laden persönlich schmeißt.«
    Ich war entschlossen, nicht aufzugeben. »Hat Peter McConnell es getan?«

    Thorpe tupfte sich die Lippen mit einer Serviette ab. »Du hast das Buch gelesen. Du kennst meine Theorie.«
    »Ich frage dich nicht nach deiner Theorie. Ich frage dich, ob er es getan hat.«
    »Bleibt das unter uns?«
    »Klar«, sagte ich. »Wem sollte ich es auch erzählen?«
    »Er hatte die Gelegenheit. Er hatte ein Motiv. Der Großteil der Indizien deutete auf ihn.«
    »Der Großteil?«
    »In Fällen wie diesen bleibt immer der Schatten eines Zweifels.«
    Ich goss ihm den Rest Wein ins Glas. »Als du das Buch geschrieben hast«, fuhr ich vorsichtig fort, »hattest du da Zweifel?«
    »Jeder vernünftige Mensch würde in Anbetracht der Faktenlage Zweifel haben. Das ist unvermeidlich.«
    »Aber im Buch klang es, als müsste er der Täter sein.«
    Thorpe hob sein Glas hoch. »Musste er auch.«
    »Warum?«
    »Weil es bei jedem anderen einfach nur ein gemeiner Mord in der Polizeistatistik gewesen wäre, der zu nicht mehr als einer Meldung in der Zeitung getaugt hätte. Aber wenn McConnell der Täter war, dann war es eine großartige Story - eine junge, schöne, geniale Mathematikerin, ermordet von ihrem verheirateten Liebhaber, der wusste, er würde nie ein so brillanter Wissenschaftler sein wie sie.« Seine Stimme war vom Wein etwas wackelig geworden, und auf seinem Schädel breitete sich wieder ein Schatten von Stoppeln aus. »Im Endeffekt will doch jeder von einer großartigen Story gefesselt werden. Jeder will von Menschen lesen, denen er im wahren Leben wahrscheinlich nie begegnen wird. Als ich auf McConnell stieß, war mir sofort klar, dass er die Figur war, nach der
ich gesucht hatte, die mir in all meinen vorherigen Bemühungen, einen Roman zu schreiben, gefehlt hatte.«
    »Aber dein Buch war kein Roman.«
    »Dennoch musste ich wie ein Romanautor denken. Wenn ich

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