Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
Vom Netzwerk:
Genau in diesem Augenblick arbeitet er vielleicht an der Goldbachschen Vermutung, überzeugt, dass er eines Tages den Beweis finden wird. Wenn es so weit ist, wird niemand da sein, um den Ruhm mit ihm zu teilen.
    Im Rückblick wurde mir klar, dass ich schon längst zwei und zwei hätte zusammenzählen müssen. Thorpe hatte den Schluss nicht beim Schreiben des Buches aufgedeckt. Er hatte das Buch auf seinen perfekten Schluss hin konstruiert.

22
    ALS ICH UM HALB SIEBEN nach Hause kam, warf ich meine Kleider in die Waschmaschine, um den Geruch von Thorpes Haus loszuwerden. Obwohl er seit zwei Monaten keine Zigarette mehr angerührt hatte, stank ich nach kaltem Rauch.
    Es war noch zu früh, um die Telefonnummer zu wählen, die er mir gegeben hatte. Trotz meiner Erschöpfung wusste ich, dass ich nicht würde schlafen können, also holte ich Lilas Notizbuch aus seinem Versteck unter meinem Bett und fuhr nach Hayes Valley. Ich parkte auf der Octavia Street und lief die schmale Gasse entlang, vorbei an den mit Graffiti besprühten Autowerkstätten, vorbei an den schwarzen Lederkorsagen im Schaufenster des Dark Garden. Eine lange Schlange zog sich vor dem Bluebottle Coffee Kiosk bis auf die Straße hinaus. Schon mehr als einmal hatte ich nichtsahnende Kunden vor die Theke treten und einen »doppelten Latte halb-halb« oder einen »kleinen Soja-Haselnuss-Cappuccino« bestellen hören, nur um vom Barista zart gescholten zu werden; wer eine überdrehte, aufgemotzte Ausrede für eine gute, solide Tasse Kaffee suchte, so seine unmissverständliche Haltung, konnte sein Geld gern bei Starbucks lassen. Ich persönlich hatte nie viel für diesen Schnickschnack übrig, für mich kam es nicht infrage, meinen Coffea arabica mit Sojamilch zu verwässern oder mit irgendeinem Aromasirup
zu versetzen. Bei Bluebottle gab es keine Sitzgelegenheiten, nur einen kleinen Stehtisch, der aus dem Kiosk auf den Bürgersteig ragte, doch irgendwie erhöhte das noch den Charme des Ladens.
    Ich atmete tief ein, genoss das volle Aroma des jemenitischen Sana’ani, bevor ich den ersten Schluck nahm. Ich schmeckte Nuancen von Aprikose, Tabak, Wein und eine leicht würzige Note. Der erste Schluck am Morgen war immer der beste, dann konnte ich spüren, wie mein Kopf frei wurde, das Blut in mein Gehirn strömte. Ich blendete die Welt aus und schlug Lilas Notizbuch auf, wieder einmal mit dem festen Vorsatz, einen Sinn herauszulesen.
    Auf der Seite, mit der ich mich zuletzt beschäftigt hatte, war die Kontinuumshypothese vermerkt: Es gibt keine überabzählbare Teilmenge der reellen Zahlen, die in ihrer Mächtigkeit kleiner ist als die der reellen Zahlen.
    Die folgenden Seiten enthielten Notizen über die Geschichte des Problems. Ich musste an eine Unterhaltung denken, die wir einmal spätabends in Lilas Zimmer geführt hatten, nachdem unsere Eltern ins Bett gegangen waren. Ich konnte nicht mehr genau zuordnen, wann das Gespräch stattgefunden hatte - vielleicht Wochen vor ihrem Tod, vielleicht Monate? -, aber ich erinnerte mich im Wesentlichen noch an den Verlauf.
    Die Kontinuumshypothese ist insofern etwas Besonderes, als sie das erste auf David Hilberts berühmter Liste der dreiundzwanzig ungelösten mathematischen Rätsel war, die er im Jahre 1900 vorgestellt hatte. Anfang der 1960er-Jahre hatte jemand nachgewiesen, dass die Kontinuumshypothese weder bewiesen noch widerlegt werden kann. Doch der namhafte Mathematiker Paul Erdös nahm sich das Thema noch einmal vor. Sein Gedanke war, dass, wenn es so etwas wie eine infinite
Intelligenz gäbe, diese vielleicht das den Menschen fehlende Wissen besäße, um die Hypothese zu beweisen oder zu widerlegen.
    »Solange also die menschliche Spezies es nicht schafft, unendlich schlauer zu werden«, sagte Lila, »wird die Welt wohl aussterben, ohne dass wir dieses Grundproblem der Unendlichkeit gelöst haben.«
    »Was, wenn deine Goldbachsche Vermutung dieselbe Art von Aufgabe ist?«, fragte ich. »Was, wenn du die nächsten dreißig Jahre lang nach einem Beweis suchst, der nicht existiert?«
    »Dann habe ich es zumindest probiert«, sagte Lila. »Zumindest weiß ich dann, dass ich getan habe, was ich konnte, und nicht aufgegeben habe.«
    Seit meiner Begegnung mit McConnell war ich jeden Tag an die Grenzen meines eigenen Wissens gestoßen, an die Schwäche meiner eigenen Vorstellungskraft. Wäre die Situation umgekehrt gewesen, wäre meine Leiche damals im Wald gefunden worden, dann hätte Lila ganz bestimmt nicht

Weitere Kostenlose Bücher