Niemand, Den Du Kennst
irgendeine Geschichte in einem Buch unbesehen geglaubt. Sie hätte die Fakten konsequent überprüft und das Puzzle methodisch zusammengesetzt. Ich war überzeugt davon, dass sie nicht eher aufgegeben hätte, bis sie die Wahrheit kannte. Und ich war sicher, dass sie nicht zwanzig Jahre gebraucht hätte, um mit der Suche zu beginnen.
Um acht Uhr zog ich Thorpes Zettel aus meinem Portemonnaie und wählte die Telefonnummer. Eine Frau hob nach dem zweiten Klingeln ab. »Guten Morgen«, sagte ich. »Bin ich mit dem Anschluss von James Wheeler verbunden?«
»Hier ist Delia Wheeler. Rufen Sie wegen einer Rechnung an?«
»Nein.«
Im Hintergrund bellte ein Hund. »Ganz sicher nicht? Weil ansonsten der einzige Mensch, der James jemals anrief, seine Mutter war, Gott hab sie selig.«
»Ich bin ehrlich keine Geldeintreiberin.«
»Na gut, dann ist das Jimmys Anschluss. Mit wem spreche ich?«
»Sie kennen mich nicht, aber unsere Pfade haben sich vor langer Zeit gekreuzt. Lila Enderlin war meine Schwester.«
»Wer?«
»Lila Enderlin.«
Sie schwieg. Ich konnte den Hund hören, er war jetzt näher am Hörer und hechelte.
»Darüber wissen wir nichts«, sagte Delia.
»Ich würde einfach nur gern vorbeikommen und ein paar Minuten mit Mr. Wheeler sprechen, bitte.«
»Die Polizei hat bereits vor dreißig Jahren mit ihm gesprochen«, sagte sie. »Er hat ihnen alles erzählt.«
»Zwanzig«, sagte ich.
»Was?«
»Es ist zwanzig Jahre her, dass Lila starb.«
Wieder eine Pause. »Ich hätte schwören können, dass es 1979 war. Lieber Himmel, wenn mein Kopf uns jetzt auch noch im Stich lässt, dann sitzen wir wirklich in der Tinte.«
»Wohnen Sie immer noch auf der Moultrie Street?«, fragte ich.
»Ja.«
»Ich könnte jederzeit vorbeikommen.«
Ich rechnete fest damit, dass sie mich abwimmeln würde, woraufhin ich mich aufs Betteln verlegen müsste; daher war ich erstaunt, als sie sagte: »Tja, wir sind an sich den ganzen Tag hier. Jimmy kann nicht mehr vor die Tür, und ich lasse ihn nicht gern allein.«
»Ich bin in einer Stunde da. Haben Sie vielen Dank, dass Sie mich empfangen.«
Hinter der Adresse auf der Moultrie Street verbarg sich ein kleines, braun geschindeltes Häuschen mit dunkelgelben Fenster- und Türrahmen. Die Haustür lag nur wenige Schritte vom Bürgersteig entfernt. Die Straße war voller Autos, weshalb ich ein paar Minuten herumfahren musste, um einen Parkplatz zu finden.
Gerade wollte ich an der Tür klingeln, als sie auch schon geöffnet wurde. Eine winzige, blasse Frau, knapp eins fünfzig und sicher nicht schwerer als fünfundvierzig Kilo, stand in einem Google-T-Shirt und schwarzer Hose vor mir. Das lange braune Haar war zum Pferdeschwanz gebunden, und sie trug rosafarbenes Rouge und einen dazu passenden Lippenstift. Sie war jünger, als ich erwartet hatte - vermutlich Anfang sechzig.
»Ellie Enderlin«, sagte sie und musterte mein Gesicht. »Meine Güte.« Sie schien noch etwas anderes sagen zu wollen, doch dann trat sie einfach beiseite und ließ mich ins Haus.
»Vielen Dank, dass ich so kurzfristig kommen durfte.«
»Ich bezweifle zwar, dass ich Ihnen helfen kann, aber es ist schön, mal Besuch zu haben.«
Rechts vom Eingang hing ein blauer Vorhang, durch dessen Spalt man eine Nische erkennen konnte, gerade groß genug für ein Bett. Auf einem schmalen Tisch am Fußende des Bettes stand ein kleiner Fernseher, dessen Schein über eine gelbe Steppdecke flimmerte. Kein Geräusch kam aus dem Apparat. In dem Bett lag jemand, James Wheeler, nahm ich an; aber wegen des Vorhangs konnte ich nur seine Füße sehen, weiß und knochig. Neben den Füßen schlief ein kleiner schwarzer Hund. Wir gingen weiter in ein enges, blitzblankes
Wohnzimmer. Die Räume des schmalen Hauses lagen alle hintereinander aufgereiht, ganz hinten waren die Küche und ein Badezimmer. Auf dem Herd blubberte ein Teekessel.
»Entschuldigen Sie die Unordnung«, sagte sie. »Ich hatte keine Zeit zum Aufräumen.«
»Es sieht wunderbar aus.« Ich schnüffelte in die Luft, Ingwer und Zimt. »Was riecht so gut?«
»Ach, das ist nur ein einfacher Rührkuchen. Ich hätte Ihnen etwas zu Mittag gekocht, wenn Sie später gekommen wären.«
»Das wäre doch nicht nötig gewesen.«
»Ich bin in Mississippi aufgewachsen«, sagte sie und klappte die Ofentür auf, um nach dem Kuchen zu sehen. »Meine Mutter würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie wüsste, dass ich Besuch hatte und nichts zu essen angeboten habe. Erst letzte Woche war ich
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