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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Wahrscheinlichkeit errechnete, wirklich genau in dem Moment, in dem sich ein schweres Erdbeben ereignet, in einem Aufzug zu stecken. Aber mit Logik war meinen Ängsten nicht beizukommen.
    Der Aufzug kam bebend zum Stehen, und die Tür öffnete sich. Vor mir stand Ben in schwarzer Hose und grauem Hemd, er sah gepflegt und nicht einen Tag älter als fünfundvierzig aus. Rasch rechnete ich im Kopf nach. 1968 hatte er angefangen, für den gerade aus dem Ei geschlüpften Rolling Stone zu schreiben, was bedeutete, er musste mindestens sechzig sein. Vielleicht hielt Rock’n’ Roll ihn jung.
    »Willkommen im Pfarrhaus«, sagte er grinsend.
    Ich drückte ihm eine Schachtel in die Hand. »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht. Von Chow. Das halbe Hühnchen mit Stampfkartoffeln. Ich habe das Interview im SanFrancisco -Stadtmagazin
gelesen, in dem Sie erzählt haben, dass Sie das am liebsten mögen.«
    »Danke. Das wäre doch nicht nötig gewesen.«
    Plötzlich kam ich mir albern vor, weil ich ihm etwas zu essen mitgebracht hatte, aber ich hasste es, mit leeren Händen zu kommen, und mir war kein passendes Geschenk für einen Mann eingefallen, der sicherlich alles besaß, was er sich wünschte. Normalerweise brenne ich eine Mix-CD, wenn ich ein zwangloses und doch gleichzeitig persönliches Geschenk machen will. Doch ich dachte mir, Ben Fong-Torres eine Mix-CD mitzubringen, wäre wie Bœuf Bourguignon für Anthony Bourdain zu kochen.
    »Machen Sie es sich bequem«, sagte er. »Ich hole mal einen Teller für das hier.«
    Im Wohnzimmer lag, genau wie im Aufzug, ein Teppich mit Leopardenmuster. Das Erste, was mir auffiel, war der Ausblick, eine nach Norden ausgerichtete Fensterwand. Am Fuße des Hügels blinkte die Neonbeleuchtung des Castro Theatre; das fehlende T verlieh San Franciscos prachtvollstem altem Kino eine angenehm verwahrloste Ausstrahlung. Dem Schild nach käme man nie auf die Idee, dass das Innere des Filmsaals eine Hommage an barocken Glanz war oder dass sich jeden Abend vor der Siebenuhrvorstellung eine Orgel aus dem Orchestergraben erhob. Die Luft war klar, und jenseits der funkelnden Lichter der Stadt war die Golden Gate Bridge zu erkennen.
    Um einen besseren Blickwinkel zu haben, stellte ich mich an die Fenster. Im Mosaik der Straßen unter mir konnte ich vertraute Gebäude erkennen, die Dächer von Wohnhäusern, die ich schon mein ganzes Leben lang kannte. Es war merkwürdig, aus so gewaltiger Höhe auf meine Stadt zu blicken. Ich kannte diese Straßen so genau, von unten aus betrachtet.
Tausende Male war ich über die Bürgersteige spaziert und hatte zu den Fenstern hochgespäht, die Leben der Familien ausspioniert. Auch unsere eigene Familie, das wusste ich, musste auf diese Weise von zahllosen Passanten beobachtet worden sein. Als ich noch ein Kind war, waren die Fenster unseres Wohnzimmers nie durch Vorhänge verhüllt gewesen. Meine Mutter liebte natürliches Licht und den Zylinderputzerbaum neben der Auffahrt, liebte es, auf die Straße hinausschauen und Freunde oder Fremde vorbeilaufen sehen zu können. Nach Lilas Tod ließ sie Rollläden montieren. In den darauffolgenden Jahren waren die Läden selten hochgezogen, sodass unser einst fröhliches Haus düster und sonnenlos wurde.
    Ich stellte mir die Leute in den Häusern dort unten vor, wie sie das Haus auf dem Hügel musterten und sich Geschichten über das Leben der Menschen ausdachten, die darin wohnten. Kam Ben jemals, wenn er hier an seinen Fenstern stand und die leuchtende Stadt überblickte, der Gedanke, dass jemand ihn beobachten könnte? Die meisten von uns leben in dem Glauben an ihre eigene Privatsphäre. Mir war es lange Zeit ebenso gegangen. Doch dann saß ich in Thorpes Arbeitszimmer und fand durch ein Fernglas mein altes Kinderzimmerfenster. Und erst vor wenigen Wochen war ich in einem Café in Diriomo einem Mann in die Arme gelaufen, der über meine Anwesenheit in dem Dorf lange bevor ich mir seiner bewusst war, Bescheid wusste. Fast zwanzig Jahre zuvor war in einem Restaurant in North Beach ich die Voyeurin gewesen, hatte Peter McConnell bei seinen montäglichen Mittagspausen beobachtet. Wie weit erstreckte sich dieses Netzwerk des Spionierens? Wir alle waren Beobachter und Beobachtete zugleich. Privatsphäre war nichts als eine tröstliche Illusion.

    Als ich dort gedankenverloren aus dem Fenster starrte, hob ich den Blick und entdeckte Bens Spiegelbild im Glas. Völlig regungslos stand er da, die Hände in den Taschen. Manche Augenblicke

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