Niemand hört dich schreien (German Edition)
geworden«, leierte sie herunter, als wäre es ein ganz normaler Lebenslauf.
»Ich habe von jemandem gehört, dass Sie letztes Jahr eine Riesenstory hatten.«
Sie veränderte ihre Sitzhaltung, als wäre ihr das Thema unangenehm. »Ja, aber ich würde lieber nicht beim Frühstück darüber sprechen.«
»Oh. Ja, natürlich.« Bis zu einem gewissen Punkt war sie freundlich, doch dann stieß man auf einmal gegen eine unsichtbare Wand.
Cole stellte Kendall noch ein paar Fragen, die sie beantwortete. Nach einer Stunde Geplauder brachte er sie nach Hause. Es war alles nett und freundlich, genauso, wie er es angestrebt hatte. Er wollte, dass sie ihn für einen sympathischen Kerl hielt. Er wollte nicht, dass sie zu genau hinsah und ihr auffiel, dass die Teile seiner Geschichte nicht zusammenpassten.
Jacob verbrachte fast eine Stunde mit Seilspringen. Er verzichtete auf den Sandsack und entschied sich stattdessen für Bauchmuskeltraining und ein Oberkörper-Workout mit Gewichten. Anschließend duschte er und blieb unter dem Wasserstrahl stehen, bis die Anspannung in seinen Muskeln nachließ. Dann zog er sich an, nahm seine Sporttasche und verließ die Garderobe.
Als er am Boxring in der Mitte vorbeikam, trugen zwei junge Männer gerade einen Übungskampf aus. Er blieb stehen, um zuzuschauen. Der Kleinere der beiden hob die Fäuste und signalisierte seinem Gegner, dass er eine Pause wollte. Jacob hatte den Jungen schon früher kämpfen sehen. Er hatte eine gute Linke, ließ aber die rechte Hand zu oft sinken. Sein Name war Lenny oder so ähnlich. Jacob rief sich ein paar magere Details ins Gedächtnis. Pflegekind. Trainierte hart. Ehrgeizig.
Lenny spuckte das Mundstück aus und ging zu den Seilen. Schweiß tränkte sein T-Shirt und lief ihm unter dem Helm in die eisblauen Augen. »Hey, Sie sind Jacob, nicht wahr?«
»Ja.«
»Vor zwei Wochen haben Sie ganz schön was eingesteckt.«
»War nicht so schlimm.«
Der Junge zog die Nase hoch. Er konnte nicht älter als fünfzehn oder sechzehn sein. »Haben Sie schon mal daran gedacht, mit mir zu boxen? Ich könnte das Training gebrauchen.«
Erst in den letzten paar Tagen hatte Jacob langsam angefangen, sich wieder wie ein Mensch zu fühlen. Mit den noch nicht verheilten Haarrissen in der Hand wäre es idiotisch gewesen, sich auf einen Kampf einzulassen. Eigentlich war die Antwort klar. Sein Ego und die Frustration wegen Kendall ließen es ihn dennoch in Erwägung ziehen. »Trainierst du für einen Kampf?«
»Ja. Für einen großen.«
Jacob stellte die Tasche ab und trat an den Ring. »Hast du keinen Trainer?«
»Ich kann mir keinen leisten. Hier und da kriege ich Tipps. Ich sehe bei anderen zu. Ich hab Sie im Ring beobachtet.« Er verschränkte die behandschuhten Fäuste über den Seilen und beugte sich vor. »Ich hab Sie kämpfen sehen, sogar ein paar von Ihren alten Kämpfen auf Video. Sie haben Instinkt, alter Mann. Ich will ein bisschen was von Ihrem Instinkt abkriegen.«
Der Junge war ein großer Welpe und meinte »alter Mann« nicht böse. Trotzdem saß es. »Wenn du noch einmal ›alter Mann‹ zu mir sagst, werde ich dir zeigen, was Instinkt ist.«
Lenny grinste. »Machen Sie ein oder zwei Runden mit mir?«
»Wir fangen mit ein paar Schlägen an und schauen, wie weit wir kommen.«
»Cool. Wann?«
Der Junge war begierig. Jacob respektierte das. »Ich hab jetzt einen Fall. Ich melde mich, wenn ich so weit bin.«
Lenny nickte. »Ich bin jeden Tag hier.«
»Okay.« Jacob nahm die Tasche hoch. »Behalte in der Zwischenzeit deine Rechte oben. Du lässt sie zu oft fallen.«
Der Junge grinste. »Wird gemacht.«
Jacob ging zum Bagelshop an der Ecke und bestellte ein Eiersandwich und einen extragroßen Kaffee. Das Sandwich schmeckte gut, und er fühlte sich tatsächlich wie ein Mensch.
Um die Mittagszeit kam er im Büro an und las das Fernschreiben des FBI . Wie Zack gesagt hatte, handelte der Bericht von der Erdrosselung zweier Frauen, die gewisse Ähnlichkeiten mit den ermordeten Frauen in Richmond aufwiesen.
Jacob schaute auf die Uhr. Mittag hier bedeutete acht Uhr in Alaska. Er wählte die angegebene Nummer in der Hoffnung, den Beamten zu erreichen, dessen Name unter dem Bericht stand. Das Telefon klingelte dreimal, bevor er ein schroffes »Alaska State Trooper’s Office« hörte.
Jacob nannte seinen Namen und seinen Dienstgrad und wartete, bis die Zentrale ihn mit dem zuständigen Polizisten verband. Nachdem er sich vorgestellt und ein paar Floskeln mit
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