Niemand hört dich schreien (German Edition)
ganz kurz. Nichts allzu Schlimmes. Erst in den letzten paar Wochen sind sie langsam beängstigend geworden. Ich habe noch Schlafmittel von meiner Schulteroperation. Sie lassen mich einschlafen, aber ich bin dann den ganzen Tag so fertig. Und ich will das Problem nicht zudecken, ich will es loswerden.«
Dr. Christopher nahm die Brille ab und betrachtete Kendall. »Hätten Sie Interesse daran, Hypnose zu probieren?«
»Ich bin so weit, dass ich alles versuchen würde.«
»Wie wär’s mit jetzt?«
»Einverstanden.«
Die Ärztin stand auf, schaltete eine kleine Wandlampe ein und danach die Deckenlampe aus. Der Raum wirkte nun behaglich und intimer als zuvor. Kendall richtete sich auf und versuchte, entspannt zu wirken.
Dr. Christopher rollte auf ihrem Stuhl bis ein paar Zentimeter vor Kendall heran. »Was wissen Sie über Hypnose?«
»Ein bisschen. Ich werde mich entspannt fühlen. Sie können mich nicht dazu bringen, etwas zu tun, was ich nicht will?«
»Ganz genau. Sie werden sich in einem vollkommen entspannten Zustand befinden, und Ihr Geist wird sich öffnen. Was wir versuchen werden, ist, Sie in diesen Schrank zurückzuversetzen und zu sehen, was wir sonst noch darüber herausfinden können.«
Kendalls Magen zog sich zusammen. Es widerstrebte ihr zutiefst, an jenen Ort zurückzukehren. »Okay.«
Die Ärztin lächelte. »Schließen Sie die Augen. Lockern Sie Ihre Hände. Atmen Sie tief ein und wieder aus.« Mit tiefer, beruhigender Stimme führte sie Kendall durch die Hypnose.
Bald wich die Anspannung aus Kendalls Körper, und die vielen Einzelheiten, die sonst auf sie einstürmten, verblassten. Sie verlor jegliches Zeitempfinden und nahm nur noch das Gefühl der Wärme und Entspannung wahr.
»Nun, Kendall«, sagte Dr. Christopher. »Lassen Sie uns zu Ihrem Traum zurückgehen. Zu der Stelle, wo Sie im Schrank sind. Im Moment ist da nur Stille, so als hätten Sie alle Geräusche ausgeschaltet. Sagen Sie mir, was Sie riechen und was Sie mit Ihren Fingerspitzen fühlen. Ist es heiß oder kalt?«
Einen Augenblick lang war Kendalls Kopf leer, dann setzte ihre Wahrnehmung ein. »Ich fühle den kratzigen Wollteppich unter meinen Beinen. Meine rechte Socke ist bis zum Knöchel hinuntergerutscht. Die Luft ist kühl, und ich rieche etwas Süßes.«
»Das ist gut. Sind Sie schon früher in dem Schrank gewesen?«
Kendall hatte die Augen geschlossen und lächelte. »Es ist mein Lieblingsplatz beim Spielen. Hier kann ich allein sein.«
Dr. Christopher legte ihre Hand auf die von Kendall. »Jetzt möchte ich, dass Sie die Lautstärke wieder aufdrehen. Ich möchte, dass Sie die Geräusche langsam lauter werden lassen.«
Kendall stellte sich vor, wie sie die Lautstärke an einem Fernseher aufdrehte. Zuerst war da nichts als Stille. Und dann setzten in der Ferne die Schreie ein. Es klang, als würde jemand auf sie zu rennen und dabei schreien.
Mit pochendem Herzen legte Kendall den Buntstift hin und stand auf. Sie spähte durch das Schlüsselloch, konnte aber nichts sehen. Und immer noch wurden die Schreie lauter. Eine ganze Weile gab es nur dieses beängstigende Geräusch.
Dann wurde die Schlafzimmertür aufgestoßen, und durchs Schlüsselloch sah sie eine Frau. In ihrem Gesicht stand panische Angst, ihre Augen waren weit aufgerissen. In den Armen hielt sie ein kleines Bündel. Die Frau lief zur Schranktür und riss sie auf.
Kendall fuhr zusammen, sie war überzeugt, dass sie Ärger bekommen würde. Die Frau stieß sie in den Schrank zurück.
»Setz dich hin«, befahl sie. »Setz dich hin und sei still.«
»Aber warum?«
Die Frau legte das Bündel zu Kendalls Füßen ab. Es war ein Baby. Klein und rosa strampelte und ruderte es mit Armen und Beinen, als wollte es sein Missbehagen ausdrücken.
»Bleib hier. Halt das Baby ruhig. Um Gottes willen, sei still.«
Und die Frau warf die Schranktür zu und verschloss sie. Kendall war in der Dunkelheit allein mit dem Baby, das zu quengeln begann.
Sie sprang auf und hämmerte an die Tür. »Mommy, geh nicht weg!«
»Kendall.« Dr. Christophers Stimme klang streng. »Kendall, ich will, dass Sie jetzt aufwachen. Kendall, hören Sie mich?«
Kendalls Lider zuckten, sie schlug die Augen auf und blickte in das Gesicht der Ärztin. Sie hatte die Fäuste so fest geballt, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Langsam lockerte sie sie.
Ihr Rücken war feucht von Schweiß, und ihr Herz raste. »Die Frau in dem Traum war meine leibliche Mutter.«
Die Ärztin berührte
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