Niemand hört dich schreien (German Edition)
Der Handwerker war da gewesen und wieder gegangen. Die Mitbewohnerin war ebenfalls gegangen. Und Kendall hatte das Haus bereits vor mehreren Stunden verlassen.
Es würde kaum eine bessere Gelegenheit kommen, um sich bei ihr umzusehen.
Schnell schlüpfte er durch ihre Garage in den Garten und lief zur Hintertür. Er hatte sie während der letzten beiden Tage beobachtet und wusste, dass sie neben der Tür, hinter losem Mauerwerk versteckt, einen Schlüssel aufbewahrte. Es war eine dumme Angewohnheit, die ihr eine Menge Schwierigkeiten bescheren konnte. Aber im Moment war er froh darüber, denn es machte die Sache für ihn leichter. Er öffnete die Hintertür, ging hinein und schloss die Tür hinter sich. Er steckte den Schlüssel ein. »Hey, Kendall, ich bin es, Cole. Sind Sie zu Hause? Ich bräuchte ein Ei.« Eine lahme Ausrede. Aber das war unwichtig.
Wichtig war nur, ob ihm jemand antwortete. Doch das geschah nicht.
Er ging durch den hinteren Flur und horchte, während seine Schritte im Haus widerhallten. In der Küche blieb er stehen. Die neuen Schränke waren angebracht worden. Hübsch.
Schnell lief er die Treppe hinauf und ging zu dem Zimmer ganz hinten, das sie als Arbeitszimmer nutzte. Er hatte sie von seinem Haus aus beobachtet. Wenn sie von der Arbeit zurückkam, trank sie dort meistens Tee und ruhte sich aus.
Das Zimmer war aufgeräumt und sauber. Die Einrichtung sah französisch aus, aber er war sich nicht sicher. Kendall hatte sich Mühe gemacht, damit alles zusammenpasste. Hellblau, zartes Gelb und Weiß ließen das Zimmer feminin wirken, ohne dass es einen überladenen Eindruck machte. Man konnte auf ihrer gut gepolsterten Couch lesen, während sie am Schreibtisch saß.
Ihr Zuhause bedeutete ihr viel. Soviel er wusste, hatte sie sehr viel Wert darauf gelegt, aus dieser Immobilie etwas ganz Besonderes zu machen. Ein Schmuckstück, sicher, aber auch einladend und gemütlich.
Ganz anders als sein Haus, dessen Einrichtung aus einem Gartenstuhl, einem auf einer Kiste stehenden Fernseher und einem Schlafsack auf einer Luftmatratze bestand. Die Einrichtung war so wenig beständig wie er selbst.
Cole erinnerte sich nicht, wann er sich das letzte Mal zu Hause gefühlt hatte. Die letzten beiden Jahre hatte er entweder in billigen Motels oder im Auto geschlafen. Er hatte vergessen, wie es war, eine Familie zu haben – von einem freundlichen Lächeln willkommen geheißen zu werden, Lachen zu hören oder die Gesellschaft vertrauter Menschen zu genießen.
Er beachtete die Enge in seiner Brust nicht und betrat Kendalls Arbeitszimmer.
Er machte kein Licht, da ihm klar war, dass Licht selbst tagsüber unerwünschte Aufmerksamkeit erregen konnte. Er ging zu ihrem Schreibtisch und setzte sich. Sämtliche Unterlagen waren ordentlich gestapelt. Bleistifte, Kugelschreiber und Heftklammern befanden sich an ihrem Platz. Im Eingangskorb lagen ein paar Papiere, aber nichts war älter als eine Woche. Kendall Shaw führte ein sehr ordentliches, kontrolliertes Leben.
Er zog die mittlere Schublade auf, wobei er nicht ganz sicher war, wonach er suchte. Aber wenn er es sah, würde er es wissen. Dann öffnete er die Schubladen an der Seite. Alle waren ordentlich aufgeräumt. Nichts stach ihm ins Auge. Cole atmete tief aus. »Irgendetwas muss doch hier sein.«
Schweigend saß er da, eine Uhr tickte. Eine Wolke verdeckte die Sonne und nahm dem Raum einen Teil seines Lichts. Cole überlegte, dann stieß er sich vom Schreibtisch ab und schaute nach rechts. Dort sah er Kendalls handschriftliche Notizen über Carnie Winchester, eine Adoptionsberaterin.
Sein Herz klopfte schneller. Er bückte sich, zog den Zettel hervor und las ihn. Kendall war auf der Suche nach ihren leiblichen Eltern.
In diesem Augenblick hörte er, wie die Hintertür geöffnet und gleich darauf geschlossen wurde. In der Küche ertönten Schritte.
»Mist.« Er legte das Blatt wieder zurück, erhob sich langsam, wobei er sich bemühte, kein Geräusch zu verursachen, und durchquerte den Raum. Er stellte sich hinter die Tür und horchte.
Während er sich gegen die Wand drückte, hörte er mit angehaltenem Atem, wie die Schritte vor der Tür des Arbeitszimmers verharrten.
»Kendall?«
Es war Nicole. Die Mitbewohnerin.
Sie steckte den Kopf ins Zimmer. »Kendall, bist du zu Hause?«
Cole wollte einer schwangeren Frau nicht wehtun. Aber sie durfte ihn hier nicht erwischen. Wenn sie hereinkam …
Geh weg. Ich will dir nicht wehtun.
Nicole zögerte auf der
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