Niemand hört dich schreien (German Edition)
Liveübertragungen von jedem Tatort. Du stehst am Moderatorenpult und redest mit den Reportern.«
Empörung loderte in ihr auf. »Das ist meine Story.«
»Die Story gehört jetzt dem Sender. Sie ist zu groß für dich alleine. Und den Umfragen zufolge wollen die Zuschauer dich nicht draußen sehen, sondern am Pult.«
Er wollte sie am Pult sehen.
»Ich will diese Story nicht aufgeben.«
»Die Entscheidung ist gefallen. Ich sehe dich um zwei im Sender. Wir haben ein Meeting mit den Reportern, die ab jetzt über die Geschichte berichten.« Er legte auf.
Sie starrte auf das Telefon und schleuderte es aufs Bett. »Verdammt noch mal!«
»Sie war von Anfang an ein schweigsames, launisches Kind«, sagte Janice Waters. Die Frau trug Jeans und ein weites Hemd, das ihren gewaltigen Leibesumfang kaschierte. Sie wohnte in einem alten Haus im südlichen Teil der Innenstadt. Das ganze Haus roch nach Makkaroni mit Käse, und im Obergeschoss tobten Kinder herum.
Unmengen von Spielzeug und Schuhen lagen um Jacobs Füße herum auf dem Boden. Die Wände waren mit Dutzenden von Schulfotos bedeckt, auf denen zwölf oder dreizehn Kinder zu sehen waren. Es waren die Pflegekinder von Janice, wie sie ihm bei seiner Ankunft stolz mitgeteilt hatte.
Zu guter Letzt war es Jacob gelungen, jemanden im Jugendamt aufzutreiben, der ihm die Namen von Vickys Pflegefamilien gegeben hatte. Er hatte sich entschieden, mit der ersten dieser Familien zu sprechen.
»Wie alt war Vicky Draper, als sie zu Ihnen kam?«, fragte Jacob.
»Also, damals hieß sie nicht Draper. Ich glaube, ihr Name war Turner.«
Jacob wollte wissen, warum Vicky in Pflege gekommen war. Es war nur eine Vermutung, aber sein Gefühl sagte ihm, dass zwischen ihr und Amanda, die als Zehnjährige adoptiert worden war, eine Verbindung bestand. Die Informationen in der Akte aus Vickys Zeit als Pflegekind waren mager. »Hat sie je über ihr Leben vor ihrer Zeit bei Ihnen gesprochen?«
»Nein. Sie hat nie ein Wort gesagt. Aber ich weiß noch, dass sie schreckliche Träume hatte. Albträume, von denen sie mitten in der Nacht wach wurde. Himmel, sie hat geschrien, dass einem das Blut in den Adern gefror. Sie hat uns eine Höllenangst eingejagt.«
»Hat sie irgendwelche Brüder oder Schwestern erwähnt?«
»Nein. Ich erinnere mich, dass ich sie manchmal ertappt habe, wie sie sich im Schrank versteckte. Als ich sie gefragt habe, warum sie das machte, sagte sie, sie würde sich darin sicher fühlen. Sie meinte, da könne sie niemand finden.«
Jacob sah Janice durchdringend an. »Was hatte es mit der Narbe an ihrer Hand auf sich?«
»Die Wunde war noch frisch, als sie zu mir kam. Ich musste sogar mit ihr zum Arzt, um die Fäden ziehen zu lassen. Der meinte, für ihn sähe es nach einer Verletzung mit einem Messer aus, weil die Wunde so sauber und gerade war. Ich habe die Sozialarbeiterin nach Vickys Vergangenheit gefragt, aber sie hat mir kein Wort erzählt.« Janice kniff die Lippen zusammen. »Ich mochte die Frau nicht. Sie hielt sich für schlauer als mich – meinte, sie wüsste, was für alle das Beste ist.«
Jacob konzentrierte sich ganz auf das, was sie über die Wunde gesagt hatte. »Sie war mit einem Messer verwundet worden, bevor sie zu Ihnen kam?«
Die Frau nickte, während ihr langsam weitere Einzelheiten einfielen. »Ja. Und Vicky hasste Messer, das weiß ich noch. Sie wollte nicht in meine Nähe kommen, wenn ich Essen kochte.«
Was zum Teufel war diesem Kind zugestoßen? »Wieso hat sie ihr Haus verlassen?«
»Sie fing an, Feuer zu legen. Das konnte ich nicht dulden. Ich musste auch an die anderen Kinder denken.«
»Haben Sie Fotos von ihr?«
Janice runzelte die Stirn und stützte eine Hand auf ihrer breiten Hüfte ab. »Ich glaube schon. Kommen Sie mit.«
Er folgte ihr in die Küche und zu einem Schreibtisch in der Ecke. Auf ihm türmten sich Unterlagen, Kinderzeichnungen und ein paar aufgeschlagene Kochbücher. Janice riss eine Tür auf und begann, in alten Bildern und Unterlagen zu wühlen. Nach einer ganzen Weile zog sie ein Jahrbuch der Robinson Middle School heraus. Das Titelblatt war mit schwarzem Filzstift verschmiert. »Das war ihres. Ich weiß noch, dass ich verdammt traurig war, als sie es ruiniert hat.« Janice schüttelte den Kopf. »Ich weiß gar nicht, wieso ich dieses Zeug aufhebe.« Sie blätterte bis zur siebten Jahrgangsstufe vor und fand Vickys Bild. »Bitte sehr.«
Jacob betrachtete das Foto des kleinen Mädchens, das trotzig in die Kamera
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