Niemand hört dich schreien (German Edition)
Er hob den Kopf nicht. Aber in diesem Augenblick fühlte sich sein Leben richtig an. Der Riss in seiner Seele, der immer da gewesen war, hatte sich geschlossen. Er ließ den Finger über der Narbe auf ihrer Schulter kreisen und merkte auf einmal, dass er Gewissheit brauchte. »Bereust du es?«
»Nein. Du?«
In ihrer Stimme lag keine Spur der Emotionen, die er an ihrem Körper wahrgenommen hatte, als sie sich geliebt hatten. Er begegnete ihrem Blick. Ihre Miene war zurückhaltend. Unwillkürlich hielt er seine Gefühle im Zaum. Er wollte sie nicht bedrängen, denn er wusste, wie er selbst in einem solchen Fall reagieren würde. Er würde flüchten. »Es macht die Dinge komplizierter.«
»Nur wenn wir es zulassen.«
Die betonte Beiläufigkeit in ihrer Stimme weckte seine Vorsicht. »Dann machen wir also weiter wie zuvor?«
»Warum nicht?«
Ärger stieg in ihm auf. »Als ob nichts passiert wäre.«
»Wenn es das ist, was du willst.«
Normalerweise war er äußerst zurückhaltend, was seine Gedanken und Gefühle anging. Aber er spürte, wenn er nicht die Initiative ergriff, würde er etwas sehr Kostbares verlieren. »Es ist nicht das, was ich will.«
Sie sah ihn groß an, sagte aber nichts.
Er strich ihr eine Locke hinters Ohr. »Ich will dich. Und zwar nicht nur jetzt. Sondern auch morgen. Und den Tag danach.«
Sie senkte den Blick auf seine Brust und sagte nichts. Dann hob sie den Kopf und küsste ihn auf die Lippen. In dem Kuss spürte er so viel Gefühl und Sehnsucht, dass es beinahe wehtat.
Als sie den Kuss abbrachen, waren beide atemlos. »Ich bin gar nicht so anders als du. Ich kann nicht so gut über Gefühle reden«, sagte sie.
»Man kann ja dazulernen.«
»Ehrlich gesagt, du machst mir Angst.«
»Wieso?«
»Ich mag dich.«
»Und das ist schlecht?«
»Ich habe die Tendenz, mich zurückzuziehen, wenn ich jemanden mag.«
Er drehte sie auf den Rücken und umfasste ihr Kinn. »Dafür bin ich auch bekannt.« Mit dem Finger zeichnete er die Umrisse ihrer Lippen nach.
»Vielleicht sollten wir dann damit aufhören.«
Er schüttelte den Kopf. »Lass uns einen Tag nach dem anderen angehen. Weiter miteinander reden und sehen, wo uns das hinführt.«
»Okay.« Sie küsste ihn.
Es war nicht so, dass er erleichtert war oder das Gefühl hatte, dass von nun an alles gut werden würde. Was sie hatten, war zerbrechlich, und sie würden sehr vorsichtig damit umgehen müssen. Trotzdem, sie war das Risiko wert.
Sie liebten sich ein zweites Mal. Diesmal nahmen sie sich Zeit, den Körper des anderen zu erkunden. Nachdem der zweite Orgasmus sie mitgerissen hatte, schliefen sie eng umschlungen ein.
Das Hämmern an der Tür wurde lauter. »Lass mich rein. Ich tu dir nicht weh, Eve.«
Die Finger in das Holzpaneel gekrallt, kauerte das kleine Mädchen in der Ecke. Vielleicht würde sie ja mit der Wand verschmelzen und unsichtbar werden.
»Eve, ich tu dir nicht weh.« Der Türknauf drehte sich, und die Tür begann sich zu öffnen.
»Nein!«
Kendall setzte sich im Bett auf, ihr Körper war schweißgebadet. Das Zimmer war dunkel, und ihr Herz raste.
»Was ist los?« Jacobs Stimme klang frisch und munter, als wäre er wach gewesen.
Kendall schluckte und schüttelte den Kopf, um die Bilder zu verscheuchen. »Ein Traum.«
Er zog sie an sich. »Du bist eiskalt.«
Geborgen in seinen Armen verflog die Furcht schneller als gewöhnlich. »Es geht schon wieder.«
»Du hast schon einmal gesagt, dass du Albträume hast.«
Sie hatte die Träume vergangene Woche auf dem Parkplatz nur kurz erwähnt. »Es überrascht mich, dass du dich daran erinnerst.«
»Was dich betrifft, vergesse ich so schnell nicht.« Einen Augenblick lang hielt er sie einfach nur fest. »Erzähl mir davon.«
»Es ist immer dasselbe. Ich hocke in einem Schrank. Ich bin noch ein Kind. Und ich höre die Schreie einer Frau. Jemand versucht, in den Schrank hineinzukommen.« Ihre Kehle war trocken. »Zuerst dachte ich, es wäre nur ein Traum. Inzwischen glaube ich, es ist etwas, das vor meiner Adoption passiert ist.«
»Umso wichtiger, dass du herausfindest, wo du herkommst.«
»Die Vergangenheit macht mir Angst«, flüsterte Kendall. »Ich erinnere mich nicht, aber ich weiß, dass etwas Schreckliches passiert ist. Und ich glaube, meine Mutter wusste, was es war. Ich glaube, das ist der Grund, warum sie die Adoption geheim gehalten hat. Mom hat alle Spuren der Vergangenheit ausradiert. Ich fürchte, ich werde meine leiblichen Eltern nie
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