Niemand hört dich schreien (German Edition)
rührte sich. Kein Wunder. Nicole musste erschöpft sein. In letzter Zeit arbeitete sie immer schrecklich lange. Das Bedürfnis zu arbeiten, verstand Kendall gut. Beschäftigung hielt die bösen Gedanken in Schach.
Langsam drückte sie die Klinke hinunter und öffnete die Tür, in der Erwartung, dass Nicole gemütlich im Bett lag. Aber das Bett war leer und ordentlich gemacht, so als hätte sie gar nicht darin geschlafen.
Kendall runzelte die Stirn und betrat das Zimmer. Sie warf einen Blick ins Bad, um sicherzugehen, dass Nicole sich nicht gerade anzog. Genau wie das Schlafzimmer war das Bad sauber und unberührt. »Sie kann doch nicht die ganze Nacht gearbeitet haben.«
Kendall ging zum Nachttisch hinüber, griff zum Telefon und wählte Nicoles Handynummer. Sofort meldete sich die Mailbox, ein sicheres Zeichen, dass es ausgeschaltet war.
»Nicole, hier ist Kendall. Wo bist du? Ruf mich an. Ich gehe jetzt duschen. Wenn ich in der nächsten Stunde nichts von dir höre, fahre ich zum Atelier und suche dich. Ruf mich an.« Sie zögerte. »Vielleicht fahre ich am besten jetzt gleich zum Atelier.«
Kurz nach acht Uhr betrat Adrianna Barrington ihr Einrichtungsgeschäft.
Die letzten zwei Wochen war sie in Paris gewesen und hatte für einige ihrer Kunden Antiquitäten eingekauft, und jetzt war sie wegen des Jetlags übermüdet und gereizt. Sie tröstete sich damit, dass sie in den vergangenen Tagen, auch wenn diese lang und manchmal anstrengend gewesen waren, einige tolle Stücke gefunden hatte. Sie hatte mehrere entzückende französische Landhausstühle gekauft, zwei antike Spiegel und einen Louis- XVI. -Sekretär, der perfekt in das Haus passen würde, das sie gerade in der River Road einrichtete.
Ihr Geschäft war klein und lag in einer Ladenzeile gegenüber dem gehobenen Einkaufszentrum im westlichen Teil der City. Das Gebäude an sich hatte wenig Charme, aber seine Lage bescherte ihr einen steten Strom gut situierter Kunden.
An den blassgelb gestrichenen Wänden hingen alle erdenklichen Einrichtungsstücke, von Spiegeln bis hin zu messingbeschlagenen Regalen. Im Raum verteilt standen verschiedene Möbel, und weiter hinten gab es einen großen Tisch, der von Stoffmustern überquoll. An der hinteren Wand waren die dicken Bücher mit den Tapetenmustern verstaut. In der Ecke stand ein runder Glastisch mit ein paar grauen Polsterstühlen.
»Adrianna, bist du das?«, rief Margaret Barrington, Adriannas Mutter, aus dem Lagerraum. Sie hatten das Geschäft vor vier Jahren gemeinsam eröffnet, nachdem Adriannas Vater gestorben war.
Der Laden war die Idee von Adrianna gewesen, die darin eine Möglichkeit gesehen hatte, ihre Mutter nach dem Tod des Vaters zu beschäftigen. Margaret hatte schon immer unter Depressionen gelitten und war von zarter Natur. Nach einigem Zögern hatte sie sich einverstanden erklärt, und zu beider Erstaunen brachte der Laden schnell die ersten Erfolge. Es lief besser, als sie es sich je hätten träumen lassen.
»Ja, ich bin’s, Mom. Ich komme gerade vom Flughafen.«
Margaret trat durch den Chintzvorhang, der das Ladengeschäft vom Büro trennte. Sie war Anfang sechzig und trug einen blauen Armani-Anzug, der zu ihrer adretten Erscheinung passte und ihr silbernes, zu einer Hochsteckfrisur geschlungenes Haar betonte. Sie war eine zierliche Frau, Adrianna hatte sie schon in der siebten Klasse überragt.
Ihre Mutter runzelte die Stirn. »Du musst erschöpft sein.«
Adrianna strich sich mit ihren schlanken Fingern durch das lange blonde Haar, das ihr offen auf die Schultern fiel. Sie trug Designerjeans, eine Seidenbluse und schwarze High Heels, die sie gerade erst in Paris erstanden hatte. »Ich habe im Flugzeug ein bisschen geschlafen. Aber ich will heute Abend mindestens bis neun Uhr aufbleiben. Ich muss so schnell wie möglich wieder in den Tritt kommen. Morgen Nachmittag treffe ich mich mit den Alderson-Architekten, um die Ausstattung für ein Dutzend Musterhäuser zu besprechen.«
Margaret strahlte ihre Tochter an. Die beiden hatten immer ein enges Verhältnis gehabt, aber Adrianna war geistig und körperlich sehr viel robuster als ihre Mutter. »Das wirst du sicher wunderbar machen.«
Adrianna nahm den Stapel Post vom Vortag und blätterte ihn durch. Sie war müde und nicht ganz bei der Sache. Beinahe wäre ihr der handschriftlich adressierte Umschlag hinter der Stromrechnung entgangen.
Von Hand Geschriebenes war heutzutage eine Seltenheit in der Post und stach Adrianna immer ins
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