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Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Titel: Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annick Cojean
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Hände. Ich habe eine Bewegung angedeutet, dann zaghaft weitergemacht. Die Musik klang scheußlich, ganz altmodische Gesänge, er sah mich mit geilem Blick an. Frauen kamen herein, um abzuräumen oder ihm etwas zu sagen, sienahmen mich gar nicht wahr. »Tanz weiter, Schlampe!«, sagte er, ohne mich aus den Augen zu lassen. Ich sah, wie erregt er war, er ist aufgestanden, um mich zu fassen zu kriegen, hat mir auf den Hintern geklatscht: »Nun sieh mir doch einer diese Schlampe an!«, dann hat er sich auf mich gewälzt. Am gleichen Abend hat er mich gezwungen zu rauchen. Er mochte die Art, sagte er, wie die Frauen den Zigarettenrauch einziehen. Ich weigerte mich. Da hat er eine angezündet und sie mir in den Mund gesteckt. »Atme ein! Schluck den Rauch runter! Schluck runter!« Ich hustete, das brachte ihn zum Lachen. »Los, gleich noch mal!«
    Am sechsten Tag hat er mich mit Whisky empfangen. »Es wird Zeit, meine Hure, dass du mit dem Trinken anfängst!« Es war ein Black Label, die Flasche mit dem schwarzen Streifen, die würde ich überall wiedererkennen. Ich hatte immer gehört, dass der Koran den Genuss von Alkohol verbiete und auch dass Gaddafi ein tiefreligiöser Mensch sei. In der Schule und im Fernsehen, überall präsentierte man ihn als den eifrigsten Verteidiger des Islam, ständig berief er sich auf den Koran, sprach Gebete vor großen Menschenmengen. Ihn Whisky trinken zu sehen war folglich etwas Unerhörtes. Ein Schock, wie Sie ihn sich kaum vorstellen können. Der Mann, den man uns als den Vater aller Libyer pries, Begründer von Recht und Gerechtigkeit und die absolute Autorität im Lande, verletzte demnach sämtliche Regeln, die er verkündete! Alles war falsch. Alles, was meine Lehrer uns beibrachten. Alles, woran meine Eltern glaubten. Oh, wenn sie das gewusst hätten! Er reichte mir ein Glas. »Trink, Schlampe!« Ich nippte daran, spürte ein Brennen und fand den Geschmack widerlich. »Na los, trink! Wie eine Medizin!«
    Am selben Abend noch brachen wir alle im Konvoi nachTripolis auf. Ein Dutzend Pkw, der große Wohnbus und ein kleiner Lastwagen, der mit Material beladen war, vor allem den Zelten. Alle Mädchen trugen wieder Uniform. Und alle schienen froh zu sein, dass wir wegfuhren. Ich aber war verzweifelt. Sirte zu verlassen bedeutete, dass ich mich abermals von meinen Eltern entfernte und jede Chance verlor, nach Hause zurückzukehren. Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich fliehen könnte, aber es war ja sinnlos. Gab es einen einzigen Ort in Libyen, wo man Gaddafi entrinnen konnte? Seine Polizei, seine Milizen, seine Spione waren überall. Nachbarn überwachten Nachbarn. Sogar innerhalb der Familien konnte es Denunziation geben. Ich war seine Gefangene. Ich war ihm ausgeliefert. Das Mädchen, das im Auto neben mir saß, sah meine Tränen. »O meine Kleine! Man hat mir gesagt, du bist aus der Schule weggeholt worden ...« Ich habe nicht geantwortet. Durch die Scheibe sah ich Sirte hinter uns verschwinden, ich brachte kein Wort über die Lippen. »Ach, komm schon!«, rief das Mädchen neben dem Fahrer. »Wir sind doch alle auf der gleichen Galeere!«

3
Bab al-Aziziya
    »Ah, endlich in Tripolis!« Meine Nachbarin schien so froh zu sein, als sie die ersten Häuser der Stadt sah, dass ich mich ein wenig ruhiger fühlte. »Von Sirte hab ich die Nase voll!«, sagte die andere. Ich wusste nicht, was ich aus ihren Bemerkungen schließen sollte, aber ich registrierte alles, begierig selbst auf die kleinste Information. Wir waren annähernd vier Stunden mit hoher Geschwindigkeit gefahren, rücksichtslos gegenüberanderen Wagen wie auch Passanten, die zur Seite wichen, um den Konvoi durchzulassen. Inzwischen war es dunkel geworden, und die Stadt bot sich in der Ferne als ein Gewirr von Straßen, Hochhäusern und Lichtern dar. Dann auf einmal fuhren wir langsamer und passierten das mächtige Eingangstor einer ausgedehnten Befestigungsanlage. Soldaten flankierten es in Habachtstellung, aber die Ungezwungenheit der Mädchen im Wagen deutete darauf hin, dass sie nach Hause kamen. Die eine von ihnen sagte schlicht zu mir: »Das ist Bab al-Aziziya.«
    Den Namen kannte ich natürlich. Wer in Libyen kannte ihn nicht? Es war der Ort der Macht schlechthin, Symbol von Autorität und Allmacht: die befestigte Residenz des Obersts Gaddafi. Im Arabischen bedeutet der Name »Tor von Aziziya«, der im Westen von Tripolis gelegenen Region, aber im Denken der Libyer war er vor allem das Synonym für Terror. Papa hatte

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