Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
gut wie nichts, und auch sonst fiel mir nichts ein.
Wie dumm ich war – wenn ich daran zurückdenke! Ich hätte ein Buch kaufen sollen, etwas, das mich zum Träumen gebracht, mich abgelenkt oder aus dem ich etwas über das Leben gelernt hätte. Oder auch ein Heft und einen Bleistift, um zu zeichnen oder zu schreiben, denn in Bab al-Aziziya war nichts von alledem mir zugänglich. Nur Amal hatte ein paar Liebesromane in ihrem Zimmer und ein Buch über Marilyn Monroe, das mich zum Träumen brachte, aber ausleihen wollte sie es mir nicht.
Nein, mir fiel weder etwas Intelligentes noch etwas Nützliches ein. Gierig und verstört sah ich mich um. Aber war die Situation nicht auch schwindelerregend? Ich war eine Gefangene und für ein paar Minuten in eine Stadt entlassen, die nichts von mir wusste, wo die Passanten auf dem Bürgersteig an mir vorübergingen, ohne etwas von meiner Geschichte zu ahnen, wo der Verkäufer mir lächelnd mein Paket reichte wie einer gewöhnlichen Kundin, wo eine kleine Gruppe von Gymnasiastinnen in Schuluniform an mir vorübertobte, ohne dass ihnen bewusst war, dass auch ich in der Schule hätte sein und nur Lernen und Lachen im Kopf hätte haben müssen. Endlich stand Mabruka mal nicht hinter mir, der Fahrer war nett zu mir, und doch fühlte ich mich verfolgt. Fliehen kam nicht in Frage. Meine dreißig Minuten Pseudofreiheit erschienen mir wie dreißig Sekunden.
Tags darauf war die Bagage schon zurück. Das Souterrain füllte sich mit Lärm, ich hörte Schritte, Türenschlagen, laute Stimmen. Ich hütete mich, mein Zimmer zu verlassen, aber Mabruka stand schon bald auf der Schwelle und befahl: »Nach oben!«, unterstrichen von einer Bewegung ihres Kinns. Sie sagte nicht mal mehr: ›Du sollst nach oben kommen.‹ Das Minimum an Wörtern. Das Maximum an Verachtung. Ja, ich wurde wie eine Sklavin behandelt. Und dieser verhasste Befehl, ins Zimmer des Meisters hinaufzugehen, löste in meinem ganzen Körper eine Woge von Stress aus, so musste sich ein Stromschlag anfühlen.
»Ah, mein Schatz! Komm her!«, rief er bei meinem Anblick. Dann fiel er stöhnend über mich her, ich war wieder die »Schlampe«. Ich war ein Hampelmann, mit dem er machen konnte, was er wollte, den er nach Belieben verprügeln konnte. Ich war kein menschliches Wesen mehr. Fathia unterbrachihn, als sie ins Zimmer trat: »Mein Meister, Sie werden gebraucht, es ist dringend.« Er stieß mich von sich, zischte zwischen den Zähnen: »Hau ab!« Und ich ging in mein muffiges Zimmer zurück. An dem Tag habe ich mir zum ersten Mal einen Porno angeschaut und mir Fragen über Sex gestellt. Was ich darüber wusste, war wenig und beschränkte sich auf Gewalt, Abscheu, Beherrschung, Grausamkeit, Sadismus. Eine Foltersitzung. Mit immer demselben Henker. Ich stellte mir nicht mal vor, dass es etwas anderes sein könnte. Aber die Darstellerinnen in den Videos spielten gar nicht die Rolle von Sklavinnen, von Opfern. Sie entwickelten sogar Strategien, um zu einem sexuellen Genuss zu gelangen, den sie ebenso sehr zu schätzen schienen wie ihre Partner. Es war mir ein Rätsel, machte mich aber auch neugierig.
Zwei Tage später kam Faiza in mein Zimmer mit einem Zettel in der Hand. »Hier ist die Telefonnummer deiner Mutter, du kannst sie vom Büro aus anrufen.« Mama nahm sofort ab: »Soraya! Wie geht es dir, mein kleines Mädchen? O mein Gott, wie froh bin ich, deine Stimme zu hören! Wo bist du? Wann kann ich dich sehen? Bist du gesund? ...« Ich durfte nur eine Minute mit ihr sprechen. Wie die Gefangenen. Faiza sagte: »Das reicht.« Sie unterbrach die Verbindung.
Eines Tages geschah etwas Seltsames. Najah, die Polizistin, die keine Hemmungen kannte, kam wieder für zwei Tage nach Bab al-Aziziya, wie sie es von Zeit zu Zeit tat. Und wieder wohnte sie mit in meinem Zimmer. Ich war immer noch ein bisschen zurückhaltend gegenüber ihren vertraulichen Mitteilungen und ihren Tricks, aber ihre Dreistigkeit zerstreute mich auch.
»Ich habe einen Plan, wie wir es anstellen könnten, dass dumal für einen Moment rauskommst aus Bab al-Aziziya«, sagte sie zu mir. »Ich glaube, das würde dir guttun.«
»Spinnst du?«
»Überhaupt nicht. Wir müssen es nur ein bisschen schlau anstellen. Hättest du Lust auf einen kleinen Ausflug mit mir, in aller Freiheit?«
»Aber man wird mich nie rauslassen!«
»Sei nicht immer so schwarzmalerisch! Du brauchst nur zu behaupten, dass du krank bist, alles Übrige erledige ich!«
»Das hat keinen Sinn! Wenn
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