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Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Titel: Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annick Cojean
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bestimmt gibt es in der verwinkelten und von Mauern umgebenen Altstadt Bazare und mit Schnitzereien verzierte Holzportale, traditionelle osmanische Häuser,prächtige Moscheen und geheime Paläste. Wahrscheinlich finden sich in manchen Vierteln im Stadtzentrum wunderschöne Überreste aus der italienischen Epoche, und der Märtyrerplatz ist an Sommerabenden ein angenehm luftiger Ort, wo Kinder herumlaufen und spielen können. Doch in dem besonders feuchten und kalten Winter 2011/2012 war ich für die Reize dieser eigenartigen Metropole am Mittelmeer nicht empfänglich.
    Kreuz und quer fuhr ich in schwarz-weißen klapprigen Taxis mit zersplitterter Windschutzscheibe und blockierter Tür durch die Stadt. Meinem jeweiligen Fahrer war das völlig gleichgültig. In Höllentempo, ohne auf Vorfahrt und Verkehrsampeln zu achten, raste er durch beschädigte Straßen auf Staus zu, summte revolutionäre Gesänge mit, die im Radio liefen, und ließ nie durchblicken, dass er die Adresse, die ich ihm gab, nicht kannte. »Yalla!« – los geht’s!
    Er stimmte in ein Hupkonzert ein, bremste scharf ab, um nach dem Weg zu fragen, fuhr weiter und brüllte begeistert, sobald er erfuhr, dass ich Französin war: »Danke, Sarkozy!« Lächelnd gab ich dann sein »V« für »Victory« zurück. Der NATO-Intervention zur Unterstützung der Revolution gelte ewiger Dank, versicherte er. Die Stunde des Optimismus hatte geschlagen.
    Dabei war dieser Winter für die Bewohner von Tripolis hart. Auf den meisten öffentlichen und privaten Baustellen herrschte Stillstand, die starren Kräne hoben sich gegen den Himmel ab wie düstere Stelzvögel. Unzählige rezessionsgeschädigte Unternehmen hatten Scharen von Lohnempfängern in die Arbeitslosigkeit entlassen, die nun durch die vermüllten Straßen zogen und auf bessere Tage hofften. DieRebellen ließen sich Zeit, ihre Brigaden zu verlassen, sie schwelgten in der Erinnerung an die guten Tage, die sie zusammengeschweißt hatten, waren, immer noch siegestrunken, wild entschlossen, sich mit einer feindlichen Miliz zu messen, weniger entschlussfreudig jedoch, was ihre Zukunft anging, und nicht in der Lage, kurzfristig zu planen. Immer lauter wurden die Stimmen, die den Mangel an Transparenz der neuen Regierung beklagten, des Nationalen Übergangsrates, dessen Mitgliederliste nie publik gemacht worden war, und die die Unfähigkeit der Interimsregierung anprangerten. Man verwies mahnend auf die Separatistenbestrebungen im Osten, die Stammeskonflikte im Süden, die Pro-Gaddafi-Widerstandszellen im Westen. Doch in Tripolis, wo man das riesige Gelände von Bab al-Aziziya mit Bulldozern dem Erdboden gleichgemacht hatte, um es eines Tages in einen immensen öffentlichen Park umzuwandeln, schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Eine Stadt ohne Orientierung. Und meine Gesprächspartner waren in Bedrängnis geraten.
    Als ich bei einigen Leuten anrief, deren Kontakt man mir übermittelt hatte, war die erste Reaktion beinahe Panik: »Wie sind Sie an meinen Namen gekommen? Über wen? Warum? Hören Sie, ich habe nichts mit dieser Sache zu tun! Zitieren Sie mich niemals! Sie haben nicht das Recht, mein Leben zu zerstören!« Manchmal wich die Panik Zornesausbrüchen und Drohungen, meistens jedoch legte sie sich. Ich musste erklären, abmildern, beruhigen, Verschwiegenheit zusichern. Aber wie viele hart erkämpfte Treffen wurden mir ohne die geringste Erklärung abgesagt, hinausgezögert, auf unbestimmte Zeit verschoben! Ein Major, der mich mit einem wichtigen Zeugen zusammenbringen sollte, war plötzlich nicht mehr auf seinem Handy erreichbar. Man sagte mir, dass er in einKrankenhaus in Tripolis eingeliefert worden sei, dann, dass man ihn in eine andere Einrichtung nach Tunis überführt habe, und schließlich, dass er tot sei. Vielleicht war es so. Wie sollte ich das wissen? Ein anderer befand sich unverhofft »auf Reisen«. Wieder ein anderer war »unpässlich«. Ich wollte mich nicht damit abfinden.
    Die Fährten, auf die Soraya mich gesetzt hatte, hatten sich alle als verlässlich erwiesen. Die Entführungen, die Freiheitsberaubungen, die Vergewaltigungen, die Farce mit den Leibwächtern und der ständige Zustrom von jungen Frauen und Männern in das Schlafzimmer eines krankhaft besessenen und brutalen Diktators. Blieb noch zu klären, wie die Netzwerke funktionierten, die seit so vielen Jahren die tägliche Versorgung des libyschen Herrschers mit Frischfleisch gewährleisteten. Seine Komplizen waren gewiss

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