Niemand ist eine Insel (German Edition)
Spielzeug für Tests, dem Zimmer mit den kleinen Rollstühlen beim Fenster. Dem Zimmer mit dem vollgeräumten Schreibtisch. Da war das kleine Lamm. Da war der Rahmen mit den Sätzen Buddhas. Ich sah schnell weg. Hier – wie überall – brannte noch elektrisches Licht, es war fast noch dunkel draußen. Ich trat an eine Bücherwand voller Fachliteratur.
Faber, N. W.: The Retarded Child. Carmichael, L.: Manual of Child Psychology … Mindestens hundert solche Bücher standen da. Deutsche und englische in Augenhöhe, dazwischen russische, ganze Reihen französische etwas tiefer. Dann entdeckte ich einen Band. Auf dem Rücken las ich: Reinhardt, R.: Klinik und Therapie des Cerebral-Schadens.
Ruth Reinhardt.
Das hatte Ruth Reinhardt geschrieben!
Ich zog den Band heraus und öffnete ihn. Ich las eine gedruckte Widmung:
DR. BRUNO BETTELHEIM
MEINEM GROSSEN LEHRER
IN VEREHRUNG UND DANKBARKEIT
ZUGEEIGNET
RUTH REINHARDT
Ich hörte Schritte. Schnell stellte ich den Band ins Regal. Die Tür ging auf. Ruth Reinhardt, Dr. Sigrand und eine Schwester kamen herein. Die Schwester trug ein Tablett mit einer großen Metallkanne und drei Tassen und einer Zuckerdose. Sie stellte das Tablett ab und verschwand.
»Da sind Sie, Gott sei Dank«, sagte Sigrand. Er ließ sich in einen Sessel fallen, stöhnte, streckte die Beine aus und rieb sich die Augen.
Die Ärztin sah mich an.
»Trinken Sie auch Kaffee?«
»Ja, gerne.«
Sie schenkte die Tassen voll.
»Sie haben ein Buch geschrieben, Frau Doktor«, sagte ich.
»Ja, Monsieur Norton«, sagte Ruth Reinhardt, und zum ersten Mal war sie so etwas wie schüchtern.
Dann saßen wir um ihren Schreibtisch, Kaffeetassen in der Hand, und tranken. Ich sah, daß Sigrands Hand leicht zitterte. Der Mann war dem Zusammenbruch nahe. Er sagte, ohne mich anzusehen: »Es tut mir leid, wie ich mich gegen Sie benommen habe. Aber Sie müssen wissen …«
»Er weiß es schon«, sagte Ruth Reinhardt.
»Um so besser«, sagte er. »Sie sind gekommen aus Angst um Babs . Jetzt ist alles ganz anders. Jetzt …«
»Hören Sie auf«, sagte ich, »bitte, lieber Herr Doktor Sigrand, hören Sie auf.«
Er nickte und trank heißen, starken Kaffee, und wir taten das auch, und es war für kurze Zeit still. Dann sagte Ruth Reinhardt: »Wir müssen Ihnen leider schlimme Dinge sagen, Monsieur Norton.« Ich nickte nur. »Penicillin, die verschiedensten Antibiotika, Immunglobulin, Cortisonderivate und so weiter und so weiter, alles, was wir Babs gaben, wirkt nicht.«
»Wirkt überhaupt nicht«, sagte Sigrand. »Dazu verstärkt die Streckphänomene.«
»Die was?«
An diesem gottverfluchten Tag wurde es nicht hell.
»Was Sie eben erlebt haben.«
»Das habe ich für einen epileptischen Anfall gehalten.«
»Na ja, so ähnlich … aber das war keiner, Monsieur Norton«, sagte Sigrand, der so sehr veränderte Sigrand. Wenn er nun mit mir sprach, sprach er wie ein Freund. »Das alles hängt mit den entzündeten Gehirnhäuten und dem entzündeten Gehirn zusammen.«
»Alles«, sagte Ruth Reinhardt. »Das Zähneknirschen. Die positiven Pyramidenzeichen …«
»Was sind positive …«
»Zu kompliziert für Sie«, sagte Sigrand. »Wir sind mit unserem Latein am Ende. Vor drei Stunden bekamen wir die schlimmste Nachricht aus dem Labor. Was wir gefürchtet haben, stimmt: Das ist keine rein bakterielle Meningo-Encephalitis. Das ist eine Mischform.«
»Mischform?«
»Ja. Auch ein Virus ist da. Neben den Bakterien. Darum sprechen die Mittel nicht an.«
Ich hörte ein paar Krähen schreien.
»Was kann nun noch geschehen?« fragte ich. »Nichts mehr, wie?«
»Doch«, sagte Ruth Reinhardt und sah auf das kleine Lamm.
»Etwas, das Babs am Leben hält?« fragte ich.
»Etwas, das …« Sie sah hilfesuchend zu Sigrand.
»Etwas, das Babs sehr wahrscheinlich am Leben hält«, sagte der Arzt. »Mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit.«
»Aber keiner hundertprozentigen«, sagte ich.
»Aber keiner hundertprozentigen«, sagte er. »Nein, das nicht.«
Diese verfluchten Krähen schrien jetzt unablässig, sie mußten über uns kreisen.
»Was soll ich dazu sagen?«
Ruth Reinhardt sagte: »Sie müssen etwas dazu sagen, Monsieur Norton, leider. Jetzt gleich. So schnell wie möglich. Sehen Sie …«
»Sehen Sie«, sagte Dr. Sigrand, »die Bakterien könnten wir unter Kontrolle bringen. Aber das nützt uns nichts, solange wir das Virus nicht im Griff haben. Das ist das wichtigste und dringendste: daß die
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