Niemand ist eine Insel (German Edition)
eine Lid hing herab, die Augenränder waren entzündet. All das sah ich im schwachen Licht der blauen Lampe.
Babs’ Arme und Beine zuckten erschreckend wild, Schaum floß zwischen den Lippen, obwohl ich sah, daß die Zähne fest aufeinandersaßen. So fest, daß sie schauderhaft knirschten.
Zwei Schwestern, Dr. Sigrand und Dr. Ruth Reinhardt bemühten sich um Babs. Ich stand abseits. Die drei Frauen mußten die tobende Babs festhalten, damit Dr. Sigrand eine Injektion machen konnte.
Da war es 8 Uhr 15 am 26. November 1971. Ich hatte ein paar Kilometer laufen müssen, bevor ich ein Taxi fand. Vor zehn Minuten war ich eingetroffen. Durch den langen Verwaltungsgang gerannt. An den vielen offenen Türen vorbei. In den Büros liefen Radios oder Fernsehapparate. Ich hörte nur Satzfetzen.
»… konnten holländische Marine-Infanteristen eben noch daran gehindert werden, den vierten Stock zu stürmen …«
»… der Japaner Furuya seit sechzig Stunden ohne Schlaf. Seine Bewacher wecken ihn immer wieder …«
Dann war ich im stillen Krankentrakt.
Dann war ich im Zimmer von Babs und sah die vier Menschen um ihr Bett. Als erster drehte sich Dr. Sigrand um. Sein Gesicht war grau vor Müdigkeit, ich sah das provisorische Bett, auf dem er gewiß in dieser Nacht keine halbe Stunde geschlafen hatte. Seine Augen waren blutunterlaufen, seine Wangen bedeckten lange Stoppeln. Als er mich sah, richtete er sich auf.
»Sie!«
»Ja, ich.«
»Warum kommen Sie her?«
Ich wollte es nicht sagen, ich sagte es doch: »Angst«, sagte ich. »Ich habe Angst um das Kind.«
»Warum haben Sie nicht angerufen?«
»Das wäre nicht dasselbe gewesen. Ich muß Babs sehen.«
Dies war der Augenblick – obwohl mir das erst viel später zu Bewußtsein kam –, in dem es mit Dr. Sigrands Aversion zu Ende war. Dies war der Augenblick, von dem an er mich wie einen anständigen Menschen behandelte.
Ich sah Ruth Reinhardt an. Sie erwiderte meinen Blick ernst und nur kurz. Sie mußte sich um Babs kümmern. Die Ärztin sah aus wie eine alte Frau. Auch sie hatte in dieser Nacht wohl kaum eine halbe Stunde geschlafen. »Hätten Sie bloß angerufen«, sagte Sigrand.
»Warum?«
»Dann hätten wir Ihnen gesagt, Sie müssen sofort kommen! Aber Sie haben vergessen, uns Ihre Telefonnummer zu geben gestern in der Aufregung. Wir haben im LE MONDE angerufen. Monsieur Bracken weiß auch nicht, wo Sie stecken.« Babs schrie laut. Sigrand wandte sich zu ihr und sagte über die Schulter: »Der sucht Sie verzweifelt.«
Verflucht, dachte ich, das habe ich wirklich vergessen.
»Um so unheimlicher ist es, daß Sie jetzt von selber kommen«, sagte Ruth Reinhardt.
»Wieso unheimlich?«
»Weil wir Sie jetzt unter allen Umständen …« Sie konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, denn da schrie Babs neuerlich wie ein Tier, und ihre Arme und Beine fuhren in die Höhe, und sie erlitt etwas, was wie ein epileptischer Anfall aussah. Ich glaube, ich bin in meinem ganzen Leben nicht so erschrocken gewesen. Ich bin ein ziemlich feiger Hund, mein Herr Richter. Aber auch den mutigsten Mann hätte es gepackt, wenn er gesehen hätte, was Babs jetzt tat. Mir wurde übel.
Ich machte, daß ich aus dem Zimmer kam, erblickte die Tür eines Waschraums, stürzte hinein und übergab mich in ein Becken. In den Spiegel sah ich, als ich mir den Mund spülte. Ich sah grausig aus. Alles an mir stank nach Calvados. Ich hatte plötzlich überhaupt keine Kraft mehr in den Beinen und mußte mich setzen. Vielleicht eine Viertelstunde saß ich so auf der Brille und sah vor mich hin, sah eine Schrift an der Wand an: ES LEBE DE GAULLE!
48
E ndlich ging ich wieder auf den Gang hinaus und in das Zimmer von Babs. Da waren jetzt nur zwei Schwestern.
»Monsieur Norton …«
»Was ist mit dem Kind?«
»Es geht ihm nicht gut, Monsieur«, sagte die zweite Schwester. »Frau Doktor Reinhardt und Herr Doktor Sigrand suchen Sie überall. Sie müssen mit Ihnen reden.«
»Reden?«
»Ja, dringend. Ich werde sie rufen lassen. Warten Sie in Frau Doktor Reinhardts Zimmer, bitte.«
Diese beiden Schwestern waren sehr freundlich.
»Finden Sie das Zimmer?«
Ich nickte und ging aus dem Raum. Den stillen Gang hinunter. Einen zweiten stillen Gang. Verwaltungstrakt. Hier wieder Stimmen …
»… Führung im Krisenstab übernommen …«
»… Die Terroristen verlangen auch Zeitungen …«
Dann war ich in Ruth Reinhardts Zimmer, diesem Zimmer mit dem vielen primitiven bunten Lernspielzeug, dem
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