Niemand ist eine Insel (German Edition)
der Dunkelheit glitt das Wort ENDE ganz langsam, zuerst sehr klein, dann immer größer werdend, nach vorne und blieb auf der Leinwand stehen. Dann wurde auch die Leinwand dunkel.
Totenstill war es schon die ganzen letzten Minuten gewesen. Dieser Film endete ohne Musik, ohne das geringste Geräusch. Es blieb dunkel in dem Riesensaal des Teatro Sistina, das an der Via Sistina liegt, nahe der Piazza Barberini.
Das war am 18. Mai 1972, an einem Donnerstag, im Herzen der Ewigen Stadt, die Zeit: 22 Uhr 47, ich sah im Dunkeln auf die Leuchtziffern meiner Armbanduhr. Unmenschlich heiß war es in dem riesigen Teatro Sistina – eine Hitzewelle, wie man sie in diesem Jahrhundert noch niemals erlebt hatte, peinigte seit vielen Tagen die Ewige Stadt. Ich saß mit Rod Bracken neben Joe Gintzburger in einer seitlichen Loge. Bracken hatte einmal gesagt, daß Joe die Stimme eines Bibelverkäufers besaß, und daran mußte ich denken, als der Präsident von SEVEN STARS nun leise zu mir sagte: »Wunderbar! Einfach wunderbar! Und daß Alfredo vor drei Wochen auch noch aus dem Leben scheiden mußte, das ist ein Mirakel, Phil, hören Sie, ein Mirakel.«
»Ja, Joe«, sagte ich leise.
»Wir können dem Allmächtigen niemals genug dafür danken«, sagte Joe Gintzburger, wie ich im Smoking, klein, rosig, zierlich, ein Mann mit dem gütigsten Gesicht der Welt (nur sein Mund war viel zu klein geraten, er sah aus wie ein Loch). »Daß Alfredo vor der Premiere abgekratzt ist, das bringt uns allein in Italien noch eine halbe Million Dollar mehr Einspielergebnisse. Gott, mein Herr, ich danke Dir.«
»Amen«, sagte Bracken.
Ganz langsam gingen die vielen Lichter in dem Kinosaal an, in dem sonst Festivals abgehalten wurden. Ich stellte mir vor, wie ein Elektriker ganz langsam die Widerstände zurückschob, bis der Saal strahlend erhellt war. Zu Füßen der Leinwand Blumen – ein phantastisches Arrangement, beinahe ein Botanischer Garten. Immer noch war es totenstill im Saal. Und dann trat Sylvia aus einem Seitenvorhang auf die Bühne. Ein Scheinwerfer suchte sie, fand sie, hielt sie fest. Umgeben von unirdischem Licht stand sie da im Abendkleid. Petrolfarben, sehr gedämpft, extravagant war dieses Kleid, vorne hochgeschlossen, der Rücken bis weit hinunter frei, die Satin-Schuhe eingefärbt in der Nuance des Kleides. Ohrgehänge aus Brillanten, Brillanten-Armband, ein Solitär (der größte, den sie besaß). Das war schon alles. Ganz schlicht. War ja auch ein ernster Anlaß, zu dem wir uns hier versammelt hatten. Unter anderem. Hier versammelt: Alles, was in Rom die ›Gesellschaft‹ war. Nicht die miese Via-Veneto-Dolce-Vita-Gang, sondern all jene, die sich kaum blicken ließen in der Öffentlichkeit, Repräsentanten von garantiert jahrhundertealten Adelsgeschlechtern; Präsidenten wirklich nur der feinsten Banken; die Millionäre aus dem Norden, wo die Industrie sitzt, Autos, Pneus, Lokomotiven, Waffen, Schuhe; gewiß zwei Dutzend Politiker, ich kannte sie alle, es waren Mitglieder der Regierung, die gerade am Ruder war. Komisch: Solche Gala-Premieren hatte ich in Rom gewiß sechsmal mitgemacht. Jedesmal hatte ich dieselben Männer in einer anderen Regierung gesehen. Die Regierungen wechselten ununterbrochen, aber gewählt wurden offenbar immer wieder die gleichen Männer, wenn sie auch jedesmal ein anderes Ministerium hatten oder gelegentlich auch eine andere Parteizugehörigkeit – es war ein triumphales Ringelspiel (Italien stand natürlich eben wieder vor einer Regierungskrise) –, Zeitungsverleger, große Schauspieler, Regisseure und Autoren, weltberühmt, Sänger und Maler, weltberühmt, alle weltberühmt hier – dafür hatte Carlo Marone gesorgt.
Wer Carlo Marone ist, werde ich im folgenden erzählen. Auch was alles geschah zwischen jenem eisigen Morgen im November 1971, da ich die Genehmigung gab zur Behandlung von Babs mit dem noch nicht genügend erprobten Breitbandantibiotikum mit virostatischem Effekt, und dieser glutheißen Mainacht 1972 – viel war geschehen, so Schlimmes, daß es niemanden hier verwunderte, Babs nicht anwesend zu finden.
Ach so, natürlich. Die Kirche. Die Vertreter des Vatikans. Herren ganz nahe dem Heiligen Stuhl, Stellvertreter sozusagen des Stellvertreters, waren auch anwesend. Und ausländische Diplomaten. Der Film, der eben zu Ende gegangen war, hatte einen ethisch äußerst hochstehenden Inhalt, war die Verfilmung eines berühmten italienischen Autors, der drei glänzende Voraussetzungen
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