Niemand ist eine Insel (German Edition)
Museum, das wegen der Kostbarkeiten darin Tag und Nacht von einer privaten Polizeitruppe bewacht wurde. Mir fiel, als ich ihn da auf Sylvia zugehen sah, die Nacht ein, in der ich Carlo im Salon seines Schlosses gesprochen hatte. Wie die Zeit vergeht! Das war nun auch schon wieder ein halbes Jahr her. Carlo Marone trug eine karminrote Smokingjacke. Und er trug einen Strauß Baccara-Rosen. Zuerst verneigte er sich tief vor Sylvia. Dann küßte er ihr die Hand. Dann küßte sie ihn auf beide Wangen und den Mund. Dann überreichte Carlo die Rosen. Dann mußte Sylvia weinen. Sie kann, auch vor der Kamera, jederzeit, wenn es gewünscht wird, weinen, mein Herr Richter. Da stand sie und weinte, und das linke Lid hing nicht mehr zu tief herab (das war von Professor Delamare bestens in Ordnung gebracht worden), und es zerfloß auch kein Make-up, dafür hatten Katie und Joe Patterson, Sylvias Schminkmeister, gesorgt. Man hatte ihnen gesagt, daß Sylvia weinen würde, und da hatten sie dann eben die entsprechenden Schminken genommen, das entsprechende Pancake, die entsprechende Wimperntusche.
Diese ganze Sache da war am Vormittag ein paarmal geprobt worden – unter Joes Regie, im leeren Kino. Wir hatten zwei Stunden geprobt – das und was noch kam –, bis Joe zufrieden gewesen war. Er hatte zu mir, der ich zugesehen hatte, gesagt: »Da muß jede Bewegung sitzen. Da muß der letzte Trottel merken, daß die beiden am Rande ihrer Beherrschung sind – vor Glück und Trauer. Heroisch, verstehen Sie, Phil? Das sind zwei heroische Figuren.«
Joe kam aus Sofia, hatte in Berlin in der Konfektionsbranche gearbeitet, seinen Namen verändert und seine ersten Lustpiele, noch stumm, gedreht. Dann war er nach Amerika gegangen. Nichts gegen Sofia, um Himmels willen, mein Herr Richter!
»… zwei heroische Figuren!« hatte Joe gesagt und dann zur Bühne hinaufgerufen: »Jetzt die Girls!«
Die Girls …
Am Vormittag waren sie aus den Kulissen herbeigeeilt. Nun, bei der Premiere, kamen sie wieder aus den Kulissen, alles getimed, exakt getimed. Es waren ausgesucht hübsche Starlets, sehr dezent gekleidet, und sie brachten massenweise Blumenarrangements, Orchideen und Orchideenrispen darunter. Sylvia stand plötzlich in einem Blütenmeer. Der Beifallsorkan tobte noch immer.
Carlo Marone küßte Sylvia noch einmal, sie umarmten einander noch einmal, dann ging Marone in die Kulisse zurück. Die Girls waren schon verschwunden. Sylvia hob eine Hand. Es wurde still – allerdings erst nach einer langen Weile, in der jemand im Smoking erschienen und ein Mikrofon vor Sylvia hingestellt hatte. Langsam, sehr langsam verebbte die Raserei.
Sylvia, die Rosen in der Hand, trat einen halben Schritt vor – alles geprobt, mein Herr Richter, wenn’s um wirkliche Kunst geht, überläßt Joe nichts dem Zufall! – fuhr sich (na also, ich hatte schon gedacht, sie hätte es vergessen!) mit der Hand über die nassen Augen und sprach, in perfektem Italienisch, diese Worte, stockend, beklommen, so, als müsse sie jedes Wort mühsam suchen und hätte den Text nicht schon im Flugzeug auswendig gelernt, das uns von Paris heruntergebracht hatte, als hätte ihr Bracken nicht da schon den Zettel mit dem von ihm entworfenen Text gegeben.
»Meine Damen und Herren«, sprach Sylvia, und nun ging ein richtiges Blitzlichtfeuerwerk im Saal los, und weitere Scheinwerfer blendeten auf, »meine sehr verehrten Damen und Herren, ich danke Ihnen. Ich danke Ihnen aus ganzem Herzen. Ich bin stolz, vor Ihnen hier stehen zu dürfen – in dieser wunderbaren Stadt – und erleben zu dürfen, wie Sie das, was so viele Menschen geschaffen haben – ich bin nur einer von ihnen –, diesen Film, nämlich SO WENIG ZEIT, für gut befinden. Indessen …« Sie konnte nicht weitersprechen, denn das – nun das eben, wofür ich kein Wort finde – setzte wieder ein, dauerte lange, Joe aus Sofia sah auf seine Uhr. Sylvia hob wieder die Hand. Vergebens. Sie hob sie viermal vergebens. Dann wurde es endlich still wie zuvor.
»Vater im Himmel«, sagte Joe, und seine Stimme bebte, der weinte tatsächlich schon wieder, »gütiger Vater im Himmel, zwei Minuten und siebenundvierzig Sekunden!«
»Indessen«, sagte Sylvia, und ihre Stimme wurde leiser, noch stockender, noch gehemmter, »indessen, meine Damen und Herren, so unendlich stolz ich bin, so unendlich tief schmerzt mich in diesem Augenblick der Umstand, daß an meiner Stelle nicht mein Partner in diesem Film vor Ihnen stehen
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