Niemand ist eine Insel (German Edition)
nächsten Bus-Haltestelle und fuhr mit müden Arbeitern ein weites Stück und wechselte zur Metro, und in der Metro – wie im Bus – saßen Arbeiter mit grauen Gesichtern, Aktentaschen auf den Knien, Thermosflaschen und Blechbüchsen darin. Manche schliefen. Ich überlegte angestrengt, aber ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich zum letztenmal mit Bus öder U-Bahn gefahren war.
Als ich das Hôpital Sainte-Bernadette erreichte, hörte ich auf den Verwaltungstrakt-Gängen wieder Radio- und Fernsehsprecher. In Den Haag waren sie mit den Terroristen noch immer nicht zu Rande gekommen.
Ich ging schnell weiter, in den Trakt hinein, in dem die Zimmer der Ärzte lagen. Hier begegnete ich Ruth Reinhardt.
»Was ist mit …«
»Ich weiß es noch nicht. Ich bin unterwegs zu ihr. Doktor Sigrand und zwei andere Ärzte warten bereits auf mich. Bitte, gehen Sie in mein Zimmer, Herr Norton. Ich komme dann zu Ihnen.«
Und also ging ich in Ruth Reinhardts Zimmer und setzte mich im Dunkeln an ihren Schreibtisch und sah die blitzenden Regentropfen auf den Fensterscheiben.
Und dann kam jene kleine Frau ins Zimmer gestürzt, außer Atem, durchnäßt vom Regen, äußerst erregt stammelnd: »Frau Doktor! Wie konnte das geschehen? Warum haben Sie das nicht verhindert? Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen aufpassen! Und jetzt ist Viviane tot, tot, tot …«
3
E in paar Minuten später kam Ruth Reinhardt, und wie immer war ihr Gesicht beherrscht und ernst.
Sie berührte meine Schulter leicht, als ich aufsprang.
»Was ist? Wie geht es Babs?«
Sie sah mich schweigend an.
»Frau Doktor, bitte!«
Sie sagte – und sprach, wie immer, wenn wir allein beieinander waren, deutsch –: »Es wäre furchtbar, Herr Norton, wenn ich falsche Hoffnungen erweckte. Darum habe ich geschwiegen. Es geht Babs – zum erstenmal, seit wir das neue Mittel anwenden – etwas besser.«
»Aber das ist doch wundervoll!« rief ich und hatte das Gefühl, einen anderen Mann mit einer anderen Stimme diese Worte rufen gehört zu haben.
»Ich habe gemeint: vielleicht etwas besser. Das Fieber ist gesunken, die Halsstarre ist geringer, diese schreckliche Haltung, in der Babs liegen mußte wegen der Nervenreizung und der Muskelspannung, ist nicht mehr so ausgeprägt, und so weiter. Natürlich wäre es schlimmer, wenn ich sagen müßte: Es geht Babs noch schlechter. Aber es ist immer noch eine sehr schlimme Sache. Wir müssen jetzt Geduld haben und warten. Babs ist noch lange nicht über dem Berg. Werden Sie Geduld haben? Werden Sie warten können? Werden Sie …« Lange Pause. »… auch so bleiben, wie Sie jetzt sind, wenn es schlechte Nachrichten gibt, sehr schlechte?«
»Ich weiß es nicht, Frau Doktor«, sagte ich.
»Sie sind, Herr Norton, ein ganz anderer Mann geworden, seit ich Sie zum erstenmal hier gesehen habe. Ich habe mit Doktor Sigrand darüber gesprochen. Es ist erstaunlich.«
Ich sagte: »Ich will aber kein ganz anderer Mann werden!«
»Das können Sie nicht bestimmen, Herr Norton«, sagte Ruth Reinhardt. »Weder zum Guten noch zum Schlechten hin können Sie es bestimmen. So etwas geschieht einfach mit uns. Sie sind es – wir wollen nicht darüber reden, bitte.«
»Nein«, sagte ich. »Bitte, wirklich nicht.«
»Sie waren hier, als Madame Ralouche hereinkam.«
»Wer? Ach so – die Dame, deren Tochter heute nacht gestorben ist, ja?«
»Ja, die. Sie tobt noch immer. Will mich anzeigen, ins Gefängnis bringen. Im nächsten Moment kippt sie um, weint, bittet mich um Verzeihung und sagt: Vielleicht war Vivianes Tod das größte Glück. Und sofort danach geht alles wieder von vorne los. Ihr Mann ist unterwegs zu ihr. Er arbeitet bei Renault. In der Karosserie-Abteilung. Hatte Nachtschicht. War nicht da, als Viviane starb. Jetzt wird er bald da sein und auf seine Frau achten können.«
»Achten können?«
»Lieber Herr Norton«, sagte Ruth Reinhardt, »haben Sie das etwa für echte Gefühle gehalten bei dieser Madame Ralouche?«
»Was für Gefühle waren es dann?«
Ruth Reinhardt nahm das kleine Lamm, das auf ihrem Schreibtisch lag, und spielte damit.
»Sehen Sie«, sagte sie. »Viviane war schon fast neunzehn. Sie war seit dreizehn Jahren in ambulanter, lange Zeit in stationärer Behandlung hier. Gehirngeschädigt. Und dies sind nun die typischen ambivalenten Gefühle, die sich beim Tod eines cerebralgeschädigten Kindes so häufig zeigen. Kein normales Kind wird von der Mutter so sehr geliebt wie ein geschädigtes.
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