Niemand ist eine Insel (German Edition)
sicherlich verletzen, Herr Norton.«
»Sie müssen es mir sagen!« rief ich und sah erschrocken zu Babs. Die rührte sich nicht.
»Nun gut«, sagte Ruth Reinhardt. »Was ich dachte, ist dies: Gegenüber solchen geschädigten Kindern besteht bei dem – natürlich nicht selbst betroffenen – Durchschnittsbürger etwa die Einstellung: Ich habe meine eigenen Sorgen. Von solchen Kindern will ich nichts hören. Ja, es gibt sie. Schlimm, schlimm. Zu tun haben will ich trotzdem nichts mit ihnen, keinesfalls. Weil ich eben nicht begreifen kann, nicht wahr? Weil ich nicht weiß, wie ich mich verhalten soll vor solchen Kindern. Ich zahle Steuern. Von den Steuern soll der Staat Heime bauen für diese Kretins und Wasserköpfe und sich um sie kümmern. Dafür zahle ich ja auch Steuern! Meinetwegen spende ich auch noch. Mehr will ich darüber nicht hören! Ja, ja, ich weiß, jede Mutter kann so ein Kind gebären, jedes Kind kann so krank werden. Ich habe keine Kinder. Oder: Meine Kinder sind gesund und werden es hoffentlich bleiben. Der normale Durchschnittsbürger, Herr Norton, kümmert sich nicht um die ganze Sache. Wenn man ihn aber, wie es jetzt von allen Seiten geschieht, ununterbrochen mit der Nase darauf stößt, aus den verschiedensten Motiven, wenn man die Sache hochspielt, dann wird er irritiert. Dann ist die Öffentlichkeit irritiert! Und ein sehr großer Teil dieser ansonsten indifferenten Öffentlichkeit äußert, wenn man sie auf das Problem stößt, wenn man sie zwingen will, sich damit zu beschäftigen, verstärkt immer noch – oder schon wieder – die Meinung, man sollte sich nicht um diese Kinder kümmern, sondern man sollte sie beseitigen.«
»Ich weiß, was in Amerika los ist und anderswo. Ich habe einiges über diese neuen Pro-Euthanasie-Bewegungen gelesen«, sagte ich. »Nur in Deutschland ist man zurückhaltend – in Erinnerung an die Euthanasie-Verbrechen der Nazis.«
Wieder sah Ruth Reinhardt mich stumm an.
»Nun ja«, sagte sie dann, »und so dachte ich: Mir kann nichts passieren, wenn ich für diese Kinder da bin, sie behandle, über sie schreibe, Vorträge halte. Und Ihnen kann auch nichts passieren, denn Sie sind ja … Ich meine, Sie arbeiten ja nicht … Das heißt, ich wollte sagen, Sie kennen die Welt nur als … Es tut mir leid.«
»Es braucht Ihnen nicht leid zu tun. Ich weiß, was Sie dachten, Frau Doktor.« Babs knirschte mit den Zähnen. »Sie dachten: Wer wird sich schon mit diesem Mann anlegen? Diesem … diesem ständigen Begleiter Sylvia Morans!« Ich atmete jetzt rasch. »Das haben Sie doch gedacht, Frau Doktor!«
»Ja, Herr Norton«, sagte sie still. »Genau das habe ich gedacht.«
Ich schwieg.
»Sie haben gesagt, es würde Sie nicht verletzen.«
»Es verletzt mich nicht, weil es die Wahrheit ist.«
»Ich habe aber weitergedacht.«
»Nämlich was?«
»Nämlich, daß Sie falsch informiert sind, Herr Norton.«
»Inwiefern?«
»Sie sagten, in Deutschland sei man, nun, da so viel Wirbel um diese Kinder gemacht wird, anders als in Amerika beispielsweise, noch äußerst zurückhaltend mit dem Ruf nach Euthanasie – in Erinnerung an die Verbrechen der Nazis auf diesem Gebiet.«
»Das ist man auch!«
»Nein, Herr Norton. Das ist man nicht, so leid es mir tut – denn ich bin auch Deutsche. Eben jetzt hat man bei uns hier eine Meinungsumfrage durchgeführt.«
»Und?«
»Und das Ergebnis sieht so aus: Sechzig Prozent sprachen sich für die Nichtverlängerung des Lebens aus und achtunddreißig Prozent – achtunddreißig! – für die Tötung ›lebensunwerten Lebens‹. Bei der Umfrage hat man mit Absicht den unmenschlichen Begriff gewählt, den die Nazis gebraucht haben. Achtunddreißig Prozent der deutschen Bevölkerung – repräsentativ – sind für die Vernichtung von ›lebensunwertem Leben‹. Nicht einmal dreißig Jahre danach schon wieder mehr als ein Drittel!«
Wieder schwieg ich.
»Und da – ich dachte noch weiter, Herr Norton! – und da dachte ich: Wie gut, daß dieser Mann – Sie sind mir sympathisch, Herr Norton, wirklich –, wie gut, daß dieser Mann nur der ›ständige Begleiter‹ einer berühmten Filmdame ist und nicht arbeitet, etwa als Journalist oder Publizist oder Schriftsteller oder …«
»Ich will seit Jahren schreiben«, sagte ich. »Ein Buch über alles, was ich erlebt und gehört und gesehen habe.«
»O je!«
»Was heißt ›o je‹?« fragte ich.
»Ich habe mir vorgestellt, daß Sie so ein Buch wirklich schreiben
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