Niemand ist eine Insel (German Edition)
würden – über alles, was Sie erlebt haben, aber vor allem über das, was Sie jetzt erleben, über Ihre Begegnung mit der Welt der geistig behinderten Kinder …«
»Was ich jetzt erlebe …«, sagte ich. »Und wenn ich dieses Buch schreiben würde?«
»Sie sind Deutscher. Das Buch würde in Deutschland erscheinen!«
»Und?«
»Und achtunddreißig Prozent! Da würde sich der deutsche Leser aber freuen, wenn Sie in Deutschland ein Buch schrieben über geistig behinderte Kinder – und wenn Sie nicht gleich von vornherein dafür wären, diese Kinder umzubringen! Wären Sie ein beliebter Schriftsteller, Herr Norton – bei Lesern und Kritikern!«
»Die deutschen Kritiker sind anders. Sie sind, wenn schon nicht alle sehr objektiv, so doch alle humanitär. Keiner gehört zu den achtunddreißig Prozent.«
»Nein«, sagte die Ärztin. »Keiner. Die deutschen Kritiker sind natürlich nichts fürs Töten – weder von geistig behinderten Kindern noch von Schriftstellern. Die deutschen Kritiker sind höchstens dafür, mit ihrer Schreibtischarbeit jemanden umzubringen. Manchmal funktioniert das nicht, sehr oft funktioniert es herrlich. Ich kann Ihnen genau sagen, Herr Norton, wie die Kritiker Sie bestenfalls etikettieren würden.«
»Wie würden die deutschen Kritiker mich bestenfalls etikettieren?« fragte ich.
»Als einen vor nichts, aber auch vor gar nichts zurückschreckenden Trivialautor«, sagte Ruth Reinhardt.
5
Z ehn Minuten später.
Ruth Reinhardt hatte mit dem Stethoskop Babs’ Brust, Babs’ Rücken abgehorcht, hatte ihn abgeklopft. Sie hatte Babs gemessen. 40,8. Am Morgen. Aber Ruth Reinhardt fand, es ging Babs besser. Etwas besser.
»Warum kommen wir so schwer, so unendlich schwer voran bei unserer Arbeit, Herr Norton?« fragte mich die Ärztin in dem großen, fast finsteren Krankenzimmer. »Weil das Problem der behinderten Kinder, ich sagte es schon, nun von beiden Seiten, von rechts und von links, aufgegriffen wird, was die Massen, die stets gleichgültig sind, solange man sie nicht mit einer Sache dauernd konfrontiert, ja attackiert, wieder einmal unruhig, aggressiv und wütend macht. Weil keine Seite davor zurückschreckt, selbst dieses so schwere Problem zum Zweck persönlicher, vor allem aber politischer Machtentfaltung, zum Abreagieren von Minderwertigkeitsgefühlen, zum Tarnen politischer Angriffe und zum Zweck des Populärwerdens zu mißbrauchen.«
»Wie sieht das nun aber tatsächlich aus?«
»Unsere Welt spaltet sich, wenn es auch noch so viele Schattierungen gibt, immer mehr in zwei Lager: in das rechte und das linke. Die Rechten, um mit ihnen zu beginnen – die Linken sind um kein Haar besser! –, die Rechten also vermeiden es bewußt, der Bevölkerung etwa dies zu sagen: Wir leben heute nicht mehr im Jahr 5000 vor Christus! Wir leben nicht mehr in Erdhöhlen, in der Wildnis und unter Wölfen! Wir sind eine Menschheitsgesellschaft geworden, die nicht nur mächtig genug ist, sich weitgehend vor Naturkatastrophen zu schützen, sondern die sich darüber hinaus beträchtlichen materiellen Luxus verschaffen kann und verschafft hat. In dieser gegenwärtigen Situation aber, Herr Norton, gibt es keine Minderwertigkeit des Leistungsunfähigen.«
Ich sah sie an und schwieg, während ich ihre Stimme hörte. Ich sah jedoch nur ihr Profil, denn während sie sprach, schaute sie andauernd zu Babs, ließ sie das Kind nicht aus den Augen.
»Die Rechten, Herr Norton, berufen sich auf die Vox populi: Wozu sollen wir Geld für die Pflege hirngeschädigter Kinder ausgeben? Gewinn bringt uns das nie – und wir, das Volk, die Masse, sind ohnedies gegen dieses ganze Getue mit den Kretins. Bitte: Die neuen Pro-Euthanasie-Bewegungen ausgerechnet in Amerika, von denen Sie sprachen!« Immerzu streichelte Ruth Reinhardt das kleine Lamm. »Die Rechten bemühen sich nicht, dieser Meinung etwas entgegenzusetzen. Sie verabsäumen es, für die humane Weiterentwicklung der Menschen zu sorgen, stützen sich auf ein« – und nun klang ihre Stimme sehr bitter – »›gesundes Volksempfinden‹, mit dem Hitler schon so viel Glück hatte. Ein moderner europäischer Staat hat, und das wäre eigentlich selbstverständlich, die Verpflichtung , alles für Pflege, Erziehung und Unterbringung behinderter Menschen zu tun. Es wäre selbstverständlich, habe ich gesagt – aber es ist es nicht. Warum? Weil das, was selbstverständlich sein sollte, nämlich, daß unsere Gesellschaft diese Menschen aufnimmt, nach
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