Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
Vom Netzwerk:
Keinem normalen Kind wird von der Mutter aber auch – bewußt oder unbewußt – so sehr der Tod gewünscht.«

4
    B abs lag zusammengekrümmt in ihrem Bett.
    Die blaue Lampe brannte, sonst war es dunkel in dem großen Raum. Babs hatte eine schreckliche Art zu atmen: einmal in tiefen Zügen – dann lange, entsetzlich lange Zeit, wie es mir schien, überhaupt nicht. Ruth Reinhardt hatte mir gleich gesagt, dies sei ein typisches Symptom; sie nannte es ›Biotsches Atmen‹.
    Wir waren zu Babs gekommen, weil Ruth Reinhardt gesagt hatte, sie müsse diese nun, nach einer neuen, sehr starken Gabe des noch nicht genügend erprobten Mittels, eine Stunde lang beobachten. Wir hatten zwei Stühle an das Bett gerückt. Während wir sprachen, untersuchte sie Babs immer wieder, maß ihren Puls, achtete auf jedes Zähneknirschen, jede Bewegung, horchte die Lunge und den Rücken mit einem Stethoskop ab. Babs merkte nichts von alldem.
    »Sie schläft an der Grenze zur Bewußtlosigkeit«, hatte Ruth Reinhardt mir gesagt. »Wir können ruhig normal miteinander reden, sie hört uns nicht.«
    Nun, wir redeten miteinander, mein Herr Richter.
    Es gibt viele Dinge, die ich mit dieser Frau erlebt habe und die ich wohl nie vergessen werde. Dieses Gespräch da am Bettrand der kleinen Babs, die auf des Messers Schneide balancierte zwischen Tod und Leben, werde ich jedenfalls niemals vergessen …
    Es begann damit, daß ich Ruth Reinhardt fragte, warum sie ihr Buch diesem Dr. Bettelheim gewidmet hatte.
    »Weil das der Mann ist, dem ich alles verdanke, was ich heute über die Behandlung kranker Kinder weiß, über das ganze Problem, das sie darstellen, und darüber, wie gewissenlos sie mißbraucht werden – von allen Seiten, von Kapitalisten und Sozialisten, von Rechten und Linken, von Schwarzen und Roten, von Kommunisten und Reaktionären in der ganzen Welt.«
    »Mißbraucht?«
    »Gewiß«, sagte Ruth Reinhardt. »Es gibt nichts, was der Mensch nicht mißbraucht, um Macht zu erlangen, Macht über andere Menschen.«
    »Aber hirngeschädigte Kinder …«
    »Auch die, Herr Norton! Ich empfinde Verachtung für alle Menschen, die nur nach Macht und nach immer mehr Macht streben. Ich weiß, das darf ich nur privat. Als Ärztin darf es mich überhaupt nicht interessieren, wer mein Patient ist, ob er Doktor Mengele heißt oder Doktor Schweitzer, aber privat … Ich habe so viel erlebt … und so viel gelernt … von Doktor Bettelheim.«
    »Wer ist das?« fragte ich.
    »Doktor Bruno Bettelheim ist Österreicher«, sagte Ruth Reinhardt und maß behutsam, so sehr behutsam, Babs’ Puls, den Blick auf die Leuchtziffern ihrer Armbanduhr gerichtet. »Er wurde 1903 in Wien geboren. Dort studierte er Psychoanalyse. Dort arbeitete er auch. Na ja …«
    »Wie ist der Puls?«
    »Einhundertzwanzig.«
    »Nicht schön«, sagte ich.
    »Nein, gar nicht schön. Aber es wird bald besser werden – hoffentlich.« Ich sah, daß sie das abgegriffene kleine Spielzeuglamm aus der Tasche ihres Mantels nahm. »Unter den Nazis war Bettelheim gezwungen, seine Arbeit zu … unterbrechen. Er kam in das Konzentrationslager Dachau, dann nach Buchenwald. Er hatte das seltene Glück, entlassen zu werden. Er kam schließlich in die Vereinigten Staaten. Dort wurde er Direktor der Klinik für geistig behinderte Kinder an der Universität von Chicago. ›Orthogenic School‹ heißt diese Klinik. Ich habe zwei Jahre da gearbeitet. Besonders, zusammen mit ihm, auf dem Gebiet der ›Muschelkinder‹ … Das sind die autistischen Kinder, die außerhalb unserer Welt leben, sie nicht wahrnehmen … das sind die am schwersten Geschädigten«, sagte Ruth Reinhardt, mit dem kleinen Lamm spielend. »Hier sehen wir immer noch nicht sehr weit. Aber auch hier gibt es schon Fortschritte. Interessiert Sie das wirklich?«
    »Selbstverständlich. Wenn ich doch …« Ich sah zu Babs.
    »Babs wird gesund werden. Hoffentlich. Sehr wahrscheinlich. Ich wünsche es ihr und Ihnen so sehr, Herr Norton. Aber viele Kinder werden nie mehr gesund. Oder es dauert Jahre, bis sie etwas gesünder werden. Das ist ein Thema, von dem kaum jemand etwas hören will – wenn er es nicht, wie ich schon sagte, benützen möchte zu dem Zweck des Erreichens elender Ziele.«
    »Ich will kein elendes Ziel erreichen«, sagte ich.
    Sie sah mich an.
    »Was ist?«
    »Ich habe an etwas gedacht …«
    »Woran?«
    »Es wird Sie verletzen.«
    »Bitte, sagen Sie mir, woran Sie gedacht haben!«
    »Es wird Sie ganz

Weitere Kostenlose Bücher